Auch am Fuß des Turms fanden wir Abdrücke von Betts’ nackten Füßen. Die Spur wand sich um das Bauwerk herum, dann war sie plötzlich zu Ende.
Verwirrt, von Zweifeln an meinem eigenen Verstand erfüllt, kehrte ich zu meiner Hütte zurück Ich erzählte Lucilia, was ich gesehen hatte, und dann überwand sie mühsam ihre Angst und ging nach Hause. Ich saß noch lange auf meiner Veranda, wartete und rauchte und stellte mir Fragen, auf die ich keine Antwort fand. Es war die Nacht vor dem Vollmond.
Am nächsten Morgen kam Betts fluchend zu mir. Er erwähnte nicht, was am vergangenen Abend geschehen war. Er war blind vor Wut, weil ein Teil der Wolfsmilchgewächse, die er aus Madagaskar mitgebracht und auf der Lichtung eingepflanzt hatte, herausgerissen worden war. Nun verlangte er von mir, daß ich den Schuldigen fand. Ich konnte nichts unternehmen, und das sagte ich ihm auch. Immer noch fluchend verschwand er wieder im Dschungel.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit geschah nichts mehr. Ich hörte auch nichts von Lucilia, die aus Angst vor Betts darauf verzichtete, mich zu besuchen. Doch als der Mond am Nachthimmel aufstieg, erschien der Häuptling des Dorfes auf meiner Veranda.
»Ich bin gekommen, Bwana«, sagte er voller Bitterkeit, »um dein gerechtes Urteil zu erbitten. Der weiße Mann mit den roten Augen ist ein Mörder. Er hat zwei Männer getötet.«
Ich hielt mich nicht damit auf, sinnlose Fragen zu stellen. Ich wußte, was ich meiner Position in diesem Dorf schuldig war, und so steckte ich mir den Revolver in die Halfter und ging zu Betts’ Hütte.
Seine Frau öffnete mir die Tür und starrte mich erschrocken an. Sie mußte den Zorn in meinen Augen gelesen haben, denn ich bemühte mich auch gar nicht, ihn zu verbergen. Betts saß zusammengesunken auf einem Stuhl neben dem Tisch.
Ich beschuldigte ihn ohne Umschweife des Mordes an zwei Eingeborenen. Er stand auf und ballte die Hände.
»Und warum hätte ich sie nicht umbringen sollen?« stieß er hervor. »Sie haben meine Gummipflanzen herausgerissen. Ich habe sie dabei erwischt. Bei Gott, ich werde diesen ganzen verdammten Stamm ausrotten, ich werde sie alle töten, wenn sie es noch einmal wagen sollten, sich an meinen Pflanzen zu vergreifen.«
»Sie sind verhaftet«, sagte ich. »Dieses Dorf steht unter meinem Schutz. Ich werde nicht zulassen, daß…«
Er bewegte sich so überraschend schnell, daß er mich überrumpelte. Seine Faust landete auf meiner Nase, warf mich gegen die Wand. Ich hörte Lucilias Aufschrei, als ich zu Boden sank, und dann sah ich verschwommen, wie Betts aus der Hütte stürmte und in Richtung Dschungel davonlief. Ich rappelte mich auf, wischte mir das Blut aus dem Gesicht und folgte ihm in das Dunkel des Waldes.
Diesmal hatte ich keine Taschenlampe bei mir – nichts, um den Pfad zu beleuchten, der sich vor mir durch das Gestrüpp wand. Über den Bäumen strahlte ein heller Vollmond, aber sein Licht konnte die dichten Zweige und Schlingpflanzen nicht durchdringen. Ich stolperte durch den Dschungel, warf mich in undurchsichtiges Dickicht, mußte immer wieder die Lianen abstreifen, die sich um meine Arme und Beine wanden. Eine halbe Stunde lang kämpfte ich mich durch die Finsternis, hielt immer wieder inne, um auf die Schritte des Flüchtlings zu lauschen.
Einmal hörte ich einen Schrei – den Schrei einer Frau. In diesem Augenblick erkannte ich die gräßliche Bedeutung des Schreis noch nicht, und so setzte ich meinen Weg unbeirrt fort.
Und dann kam er. Ich konnte mich nicht verteidigen, da er mich von hinten angriff. Plötzlich knackten die Zweige hinter mir, ich hörte ein schreckliches Keuchen, wirbelte herum, doch es war zu spät. Ein Wesen stürzte auf mich, das ich nicht als menschlich bezeichnen konnte. Es war ungeheuer kräftig, splitternackt und stank nach Alkohol. Ich fiel auf den feuchten Dschungelboden, ein weißer Arm preßte sich auf meinen Hals, dann wurde ich hochgehoben, auf eine schweißnasse Schulter geworfen. Mit furchterregender Geschwindigkeit wurde ich durch den dunklen Wald getragen. Herabhängende Schlingpflanzen peitschten mein Gesicht, zerkratzten mir die Haut. Blut verschleierte mir den Blick. Ich glaube, daß ich irgendwann das Bewußtsein verloren hatte.
Was dann geschah, nahm ich nur undeutlich wahr, denn der Schmerz umnebelte meine Sinne. Ich spürte, wie heftige Atemzüge den nackten Körper unter mir hoben und senkten, als er durch die stockdunkle Nacht raste. Plötzlich öffnete sich der Dschungel, und das grelle weiße Licht des Mondes blendete mich. Ich wurde noch hundert Schritte weit getragen und dann auf den Boden geworfen. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich mich um, starrte durch Blutschleier. Ich war an Händen und Füßen mit Schlingpflanzen gefesselt, lag verkrümmt zu Füßen des geheimnisvollen Turms, in der Mitte der Lichtung, auf der sich die Bakanzenzi zu versammeln pflegten.
Irgend etwas bewegte sich neben mir. Ängstlich zuckte ich zusammen und glaubte, meine letzte Stunde hätte geschlagen. Dann sah ich, was sich an meiner Seite bewegt hatte, und mein Atem stockte vor Entsetzen. Da lag Lucilia, brutal gegen den harten Stein geschleudert, keine zwei Schritte von mir entfernt. Sie stöhnte vor Schmerzen, denn die Fesseln aus Schlingpflanzen schnitten ihr tief ins Fleisch. Todesangst lag in ihren Augen.
Ich konnte nichts sagen. Mein Mund war voller Blut, meine Lippen waren geschwollen. Benommen starrte ich auf die Lichtung. Der Mond stand tief über den Oki-Bäumen und Fächerpalmen. Er war noch nicht hoch genug gestiegen, um den Turm zu beleuchten. Tiefe Schatten lagen über der Mitte der Lichtung.
Wir waren nicht allein. Halb verborgen im Dunkel sah ich eine weiße Gestalt um den Turm kreisen. Sie gab seltsame Laute von sich, mit kehliger Stimme, die sich immer wieder zu einem kreischenden Gesang erhob. Und als die Gestalt immer schneller an mir vorbeiglitt, sah ich noch etwas – pechschwarze Flügel, die ihren Kopf umflatterten, wirbelnde Leuchtkäfer.
Noch nie hatte ich solche Ängste ausgestanden. Ich rückte näher zu Lucilia heran, starrte mit heftig klopfendem Herzen auf das weiße Ding, das immer wieder an uns vorbeiraste. Es war Betts. Ich wußte, daß er es war. Doch diese Erkenntnis beruhigte mich nicht, denn diese Kreatur war ein splitternackter Wahnsinniger, in den Klauen einer übernatürlichen Macht, die ich nicht begriff.
Ich starrte in Lucilias Augen. »Wieso – sind Sie hier?« würgte ich hervor. »Hat er…«
»Er kam zurück, als Sie die Hütte verlassen hatten, Lyle. Er war nackt – und völlig von Sinnen. Er packte mich, schleppte mich hierher…«
Der Klang ihrer Stimme gab mir neue Kraft. Ich wußte, daß sie mich brauchte. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um an Liebe zu denken, und doch hatte ich
in diesem Augenblick erkannt, daß ich sie liebte, daß sie meine Liebe erwiderte. Das Leid hatte uns verbunden, hatte uns gezeigt, wie es in unseren Herzen aussah.
Ich hob den Kopf und schrie das schreckliche Ding an, das an uns vorbeirannte. »Betts! Besinnen Sie sich doch! Sie sind verrückt!«
Der nackte Mann blieb stehen und stieß ein häßliches Gelächter aus. Er zeigte auf den aufsteigenden Mond. Hinter Betts, am Waldrand, sah ich das Unterholz schwanken. Es raschelte, als hätte sich dort eine Horde lauernder Gestalten verborgen. Mit einem ohrenbetäubenden Heulen nahm der Wahnsinnige seine Rundwanderung wieder auf.
Erneut erfaßte mich kalte Angst. Ich starrte auf die rasende weiße Gestalt und fragte mich, wie mein Ende aussehen würde. Ich spürte, daß Betts nicht allein war. Die Bakanzenzi, die Angehörigen der grauenvollen Sekte, die ihre Kultfeiern auf dieser Lichtung abhielten, im Schein des Vollmonds, waren ganz in der Nähe – irgendwo im Dschungel, warteten nur darauf, daß das silberweiße Licht den heiligen Turm erreichte.
Und dann berührte ein Mondstrahl den Fuß der Säule. Die große weiße Gestalt blieb stehen, starrte sekundenlang reglos zum Himmel auf, dann trat sie in das volle Licht des Mondes. Nun konnte ich Betts zum erstenmal klar und deutlich sehen – den grausigen nackten Körper, übersät mit Wunden, die er sich selbst zugefügt hatte.