Es waren etwa hundert Arbeiter am Montageband, viele davon Japaner. Männer und Frauen arbeiteten Seite an Seite. Masao wurde dem Vorarbeiter vorgestellt, einem kleinen Mann mit hagerem, unsympathischem Gesicht. Er hieß Oscar Heller, und er machte gleich einen unangenehmen Eindruck auf Masao.
Heller führte Masao in den Umkleideraum und warf ihm einen weißen Kittel zu. »Da. Das wirst du immer anziehen, wenn du am Fließband stehst. Verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Komm jetzt.«
Sie kehrten in die Fabrikhalle zurück. Heller deutete auf einen freien Platz am Montageband. »Dort wirst du arbeiten. Und ich dulde keine Faulenzerei, hast du verstanden?«
»Ich habe verstanden, Sir.«
»Dann mach dich an die Arbeit.«
Masao schaute dem Vorarbeiter nach, wie er weiterschlenderte und irgendwo stehenblieb, um einem Mädchen auf den Hintern zu tätscheln. Als sie zusammenzuckte und etwas Zorniges zu Heller sagte, lachte er nur und ging weiter. Masao war empört. Wie konnte ein solcher Mensch Vorarbeiter werden? Falls er den Zwischenfall meldete, würde der Mann gefeuert. Aber natürlich hatte Masao hier nichts zu sagen. Er konnte froh sein, daß er Arbeit gefunden hatte.
Masao wandte sich ab und studierte das Montageband. Es war genau das gleiche wie in der Fabrik in Tokyo. Dies war ein Vorteil der Massenproduktion. Er konnte in jede Matsumoto-Fabrik auf der Welt gehen und wußte immer, wie dort gearbeitet wurde.
Er beobachtete, wie die gedruckten Schaltkreise auf die Platte gebracht wurden und wie das Säurebad alles Überflüssige wegätzte. Dann wurden Löcher in die Schalttafel gebohrt und die Elemente montiert. Am Schluß lief das Ganze durch einen Bottich mit Isoliermasse, die an den Drähten und Kupferteilen haftenblieb. Es war ein Arbeitsgang, den Masao schon tausende Male gesehen hatte.
Masaos Platz am Fließband war zwischen einem mittelalten Mann zu seiner Linken und einem jungen Mädchen zu seiner Rechten. Beide waren Japaner.
Der Mann drehte sich zu Masao um und sagte: »Willkommen.«
»Danke«, erwiderte Masao. Dann wandte er sich dem Mädchen zu – und da blieb ihm beinah das Herz stehen. Sie war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Sie hatte ein feines, ovales Gesicht und sanfte kluge Augen. Sie schien etwa in seinem Alter zu sein.
Sie merkte, daß Masao sie anstarrte, und sagte: »Willkommen.«
»Danke.«
»Mein Name ist Sanae Doi.« Ihre Stimme war weich und melodisch.
»Ich heiße Masao.« Er zögerte. »Masao Harada.«
Masao blickte auf und sah, daß Heller ihn quer durch die Fabrikhalle anstarrte. Er wird mir Schwierigkeiten machen, dachte Masao.
»Fang lieber an zu arbeiten«, flüsterte Sanae. »Mr. Heller kann es nicht leiden, wenn jemand nichts tut. Soll ich dir zeigen, was du zu tun hast?«
»Vielen Dank. Ich glaube, ich weiß schon Bescheid«, sagte Masao. Und während Sanae zuschaute, griff Masao nach den elektronischen Teilen vor ihm und begann, sie zusammenzubauen. Er arbeitete mit einer angeborenen Geschicklichkeit, jede Bewegung war rasch und präzise.
Sanae sah staunend zu. So etwas hatte sie noch nie gesehen. »Du … du bist sehr gut«, sagte sie.
»Vielen Dank.« Masao machte es Freude, mit seinen Händen zu arbeiten. Aber er wußte, daß es ihn irgendwann langweilen würde. Jetzt war es natürlich egal, er war nur hier, weil das ihm Sicherheit bot – getarnt als einer unter vielen Arbeitern seiner eigenen Firma. Seine Finger hantierten ganz automatisch mit den Montageteilen, aber seine Gedanken waren bei anderen Dingen. Er würde Schwierigkeiten bekommen, falls es ihm nicht gelang, eine Versicherungskarte herbeizuschaffen. Ein anderes Problem war, wie er eine Unterkunft finden sollte. Er hatte nur noch wenig übrig von den hundert Dollar, die er bei dem Wettlauf gewonnen hatte. Zahltag war erst in einer Woche, und bis dahin würden die paar Dollars nicht ausreichen.
In der Fabrik gab es vormittags eine Kaffeepause und eine am Nachmittag, und die Nachmittagspause nutzte Masao, um sich einmal im ganzen Betrieb umzusehen. Hier und da blieb er stehen, um sich mit den Arbeitern zu unterhalten. Sie schienen sehr tüchtig und interessierten sich für ihre Arbeit. Durch beiläufige Fragen erfuhr Masao, daß sie zufrieden und stolz waren, hier zu arbeiten. Mein Vater, dachte Masao, hätte sich gefreut. Das einzige Problem, soweit Masao sehen konnte, war Oscar Heller, der Vorarbeiter. Er war ein Leuteschinder, und die Arbeiter fürchteten ihn und versuchten, seinem Zorn zu entgehen. Wieder fragte sich Masao, wie es geschehen konnte, daß man Mr. Heller die Aufgabe eines Vorarbeiters übertragen hatte. Immer wenn Masao mit anhören mußte, wie Mr. Heller eine der Frauen wegen eines kleinen Fehlers anbrüllte, wollte er am liebsten dazwischentreten – aber er wußte, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als den Mund zu halten und nicht aufzufallen.
Die Fabrikglocke läutete fünf Uhr, und die Arbeiter hatten Feierabend. Sie gingen in den Umkleideraum, wo sie ihre weißen Kittel gegen ihre Jacken und Mäntel vertauschten. Masao beobachtete Sanae, wie sie ihren Mantel anzog. Sie war sehr anmutig. Masao beschloß, sie irgendwann näher kennenzulernen.
Zusammen mit den anderen marschierte Masao durchs Fabriktor, aber da war ein großer Unterschied: Sie alle hatten ein Zuhause. Er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Er konnte es nicht riskieren, über Nacht draußen auf der Straße zu bleiben. Die Polizei suchte ihn, und sein Onkel Teruo verfolgte ihn. Er mußte ein Zimmer finden. So wanderte er durch die Seitenstraßen, bis er vor einem schäbigen kleinen Hotel mit ramponiertem Baldachin über dem Eingang stand. Masao trat ein. Die Halle sah aus, als wäre sie seit Jahren nicht mehr ausgekehrt worden, und es roch nach Staub und Trostlosigkeit. Hinter der Theke hockte ein gelangweilter Portier und las ein Taschenbuch mit einer nackten Frau auf dem Umschlag.
Masao blieb vor ihm stehen. »Entschuldigen Sie. Haben Sie ein Zimmer frei?«
Der Portier nickte, ohne aufzublicken. »Yeah.«
»Was kostet es, bitte?«
»Willst du die Miete tageweise oder wöchentlich oder monatlich zahlen?«
Masao fragte sich, wie jemand es aushalten konnte, einen ganzen Monat in einem so schäbigen Haus zu wohnen.
»Wöchentlich.«
Der Portier blickte auf. »Zehn Dollar die Nacht, sechzig Dollar die Woche. Zahlung im voraus.«
Masao machte sich klar, daß ihm kein Cent übrigbleiben würde, aber er hatte keine andere Wahl. Tagsüber war er in Sicherheit, aber er mußte auch eine Zuflucht für die Nacht finden.
»Sehr gut«, sagte er. »Ich will’s nehmen.«
Der Portier nahm einen Schlüssel vom Brett und reichte ihn Masao. »Haste Gepäck?«
»Nein.«
Der Portier schien nicht überrascht. Masao fragte sich, was für Leute in diesem Haus wohnen mochten. Die Verlorenen und Geschlagenen. Jene, die sich aufgegeben hatten.
»Zimmer 217, erster Stock.«
»Vielen Dank.«
Masao drehte sich um und stieg die Treppe hinauf. Der Teppich war zerschlissen, und die Wände waren mit Graffiti verschmiert: Kilroy war hier, aber er ist wieder abgehauen. Konnte den Gestank nicht aushalten … Mary liebt John; John liebt Bruce … Hilfe! Nichts wie raus hier … Kakerlakenhimmel …
Die Vorhalle und das Treppenhaus, so armselig sie waren, hatten Masao nicht auf den Anblick des Zimmers vorbereitet. Sein ganzes Leben lang hatte er sein eigenes Zimmer gehabt, groß und sauber und luftig, mit einem herrlichen Ausblick auf den Garten und das Land. Dieses Zimmer hier war kaum größer als ein Wandschrank, schmutzig und trostlos, mit ein paar billigen, abgestoßenen Möbelstücken und einem zersplitterten Fenster, das auf eine öde Ziegelmauer hinausblickte. Das winzige Bad enthielt ein fleckiges Waschbecken, eine Kloschüssel mit zerbrochenem Plastiksitz und eine Dusche, so niedrig, daß Masao darunter kaum aufrecht stehen konnte. Das Bett sah aus, als wäre es wochenlang nicht mehr bezogen worden. Masao schaute sich in dem deprimierenden Raum um und fragte sich, wie lange er es hier aushalten würde. Na ja, er wollte es Tag für Tag neu versuchen.