Er hatte kein Geld mehr übrig, um sich etwas zu essen zu kaufen, und wollte auch nicht durch die Straßen laufen, wo irgend jemand ihn erkennen konnte. Darum blieb er auf seiner Bude und versuchte, einen Plan für die Zukunft zu machen. Er schrieb sich die Probleme auf, mit denen er zu kämpfen hatte:
1. Ich habe kein Geld.
2. Ich habe keine Freunde.
3. Ich bin in einem fremden Land.
4. Die Polizei sucht mich, wegen eines Mordes, den ich nicht begangen habe.
5. Mein Onkel sucht mich, um mich umzubringen.
Es war so trostlos, daß Masao beinahe lachen mußte. Ein anderer hätte die Hoffnung fahrenlassen – er aber war Masao Matsumoto, der Sohn von Yoneo Matsumoto, und er würde niemals aufgeben.
Nicht, solange er lebte.
Sechstes Kapitel
Am nächsten Morgen ging Masao wieder zur Arbeit. Er lief schnell, um sich möglichst kurze Zeit auf offener Straße aufzuhalten. Als er die Fabrik erreichte, schlüpfte er in seinen weißen Kittel und setzte sich an seinen Platz am Montageband. Sanae war schon da.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen.«
Das Fließband rollte an, und Masao versuchte, sich auf die Schaltkomponenten zu konzentrieren, die vor ihm vorbeiglitten. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, denn er steckte in einer Situation, die er noch nie kennengelernt hatte: Hunger. Seit über sechsunddreißig Stunden hatte er nichts gegessen, und er hatte keine Ahnung, wie er zu einer Mahlzeit kommen sollte. Sein letztes Geld hatte er dem Hotelportier gegeben, und Zahltag war erst in der nächsten Woche. Masao hatte sich noch niemals Gedanken über den Hunger gemacht. Wenn ein Mensch gut genährt ist, denkt er nicht ans Essen. Aber wenn ein Mensch hungrig ist, kann er an nichts anderes mehr denken.
Die Glocke läutete zur Mittagspause, und Masao schaute zu, wie die anderen Arbeiter zum Essen gingen. Einige kauften sich ihr Mittagsbrot bei den Imbißwagen, die am Fabriktor vorfuhren und Suppe und Sandwiches und Kaffee und Doughnuts feilboten. Andere hatten sich ihre Mahlzeit von zu Hause mitgebracht. Draußen vor der Fabrik gab es einen hübschen kleinen Park, mit Bänken für die Arbeiter und mit viel Licht und Sonne. Weil es ein warmer, sonniger Tag war, aßen viele draußen. Masao stand abseits und beobachtete sie neidisch.
Eine Stimme neben ihm sagte: »Willst du nichts essen?«
Er drehte sich um und sah Sanae neben sich stehen. »Ich … äh … nein«, sagte Masao. »Ich habe reichlich gefrühstückt.« Er wäre lieber gestorben, als zuzugeben, daß er kein Geld besaß, um sich etwas zu essen zu kaufen.
Sanae musterte ihn eine Weile und sagte dann höflich: »Falls du’s dir anders überlegst, ich hab ein Sandwich übrig.«
Sein Stolz zwang ihn zu sagen: »Nein, vielen Dank.« Er war kein Bettler; er war der Sohn von Yoneo Matsumoto.
Sanae wandte sich ab und setzte sich auf eine Bank, zu ihren Kolleginnen und Kollegen. Masao fand, daß er noch nie ein so wunderbares Mädchen gesehen hatte, jetzt sah er, wie ein junger Mann angeschlendert kam und sich neben Sanae setzte. Masao spürte plötzlich einen Stich der Eifersucht. Er wußte, wie albern es war. Er war ein gehetzter Verbrecher. Er lebte von einem Tag auf den andern. Er durfte nicht wagen, an etwas anderes zu denken als ans Überleben. Es war seine Fabrik, und diese Leute arbeiteten für ihn. Und doch war es eine Ironie des Schicksals, daß er sich nicht mal eine Scheibe Trockenbrot leisten konnte. Irgend jemand ließ achtlos ein halbes Sandwich auf der Bank liegen, und Masao mußte an sich halten, um nicht hinzurennen und es zu verschlingen. Die Glocke läutete. Es war Zeit, an die Arbeit zurückzukehren.
Sanae war sich sicher, daß irgend etwas nicht stimmte. Masao war ihr von Anfang an aufgefallen, gleich als er in die Fabrikhalle kam. Er hatte etwas Besonderes an sich, eine Art Stolz, der ihn von den anderen unterschied. Und es war offensichtlich, daß er kein gewöhnlicher Arbeiter war. Er war unglaublich geschickt. Sie versuchte herauszufinden, was sie an diesem jungen Mann beunruhigte. Er sah aus wie jemand, der bessere Dinge gewöhnt war, und doch lief er nun schon den zweiten Tag in den gleichen Klamotten herum. Und da war diese nervöse Unrast, die Sanae neugierig machte.
Und dann diese komische Sache, daß er nichts aß. Sanae hatte gesehen, wie er die anderen beobachtete, und sie hatte ihm den Hunger am Gesicht angemerkt. Sie wollte wirklich wissen, wer er war.
Masao hatte das Gefühl, daß Sanae ihn insgeheim musterte, aber jedesmal, wenn er sie anschaute, wandte sie rasch den Blick ab. Um drei Uhr war Kaffeepause, und die Arbeiter legten ihr Werkzeug fort und gingen hinaus, um sich beim Imbißwagen eine Erfrischung zu holen. Masao schlenderte zu einer leeren Bank und setzte sich. Er versuchte, den nagenden Hunger in seinem Bauch zu vergessen, und wartete darauf, daß die Glocke erneut klingelte und er wieder an die Arbeit gehen konnte. Im nächsten Moment stand Sanae neben ihm. Sie trug zwei Tassen Kaffee und zwei Doughnuts auf einem Tablett.
»Ich dachte, vielleicht könnten wir zusammen Kaffee trinken«, sagte sie. Masao schaute sie nachdenklich an. Er wollte schon ablehnen, aber die Versuchung war zu überwältigend.
»Herzlichen Dank«, sagte er höflich und nahm sich eine Kaffeetasse und einen Doughnut. Er wartete, bis Sanae in ihr Gebäckstück gebissen hatte, und führte dann erst seines an den Mund. Es war das beste, was er je gekostet hatte. Er wollte es verschlingen, aber er beherrschte sich. Er nahm einen Schluck Kaffee, und die heiße Flüssigkeit, die ihm durch die Kehle rann, schmeckte ebenfalls herrlich.
So saßen die beiden beieinander, aßen und tranken schweigend, und Sanae musterte Masao. Er hatte eine Intensität an sich, die sie noch nie an einem anderen Menschen beobachtet hatte. Er schien freundlich und offen, und doch spürte Sanae gleichzeitig, daß er ein sehr in sich gekehrter Mensch war.
»Woher kommst du?« fragte sie.
Masao zögerte einen kurzen Augenblick. »Tokyo«, sagte er dann. Sie würde niemals die Personalakte sehen, in der Chicago stand.
»Meine Eltern stammen aus Tokyo«, sagte Sanae.
»Bist du schon mal in Japan gewesen?«
»Nein.«
Masao seufzte, und ein bittersüßes Heimweh beschlich ihn. »Es ist das schönste Land der Welt.« Er fragte sich, ob er es jemals wiedersehen würde, ob er jemals seine Heimat wieder betreten würde.
»Das ist es sicherlich«, sagte Sanae. »Eines Tages hoffe ich hinzufahren.« Sie fragte: »Bist du mit deiner Familie hier?«
Wieder zögerte Masao. Er wollte sie nicht anlügen, aber die Wahrheit war zu gefährlich. »Ja«, sagte er. Und in einem gewissen, schrecklichen Sinn stimmte es. Seine Mutter und sein Vater waren bei ihm, sie waren auf ihn angewiesen. Sie würden keinen Frieden finden, solange er ihnen kein angemessenes Begräbnis verschaffen konnte.
Er schaute Sanae an und hatte ganz stark das Gefühl, daß sie beide sehr gute Freunde werden könnten. Nein, mußte sich Masao ehrlich sagen, mehr als gute Freunde. Aber es durfte nicht sein. Solche Träume waren für andere da, nicht für ihn. Er durfte nur an eines denken: ans Überleben.