Masaos Herz machte einen Luftsprung, als er sah, daß auch sein Fernfahrer zu der Gruppe hinüberging. Blitzartig rannte Masao auf den unbewachten Lastwagen los. Er schaute sich um, ob ihn auch wirklich niemand beobachtete, und sprang auf die Ladepritsche. Rasch bahnte er sich einen Weg ins Innere, kletterte über Stühle und Tische, tauchte unter Leuchtern und Sofas durch. Der Lastwagen war länger, als Masao sich vorgestellt hatte, und erst als er sich ganz am Ende der Pritsche hinter ein breites Sofa duckte, fühlte er sich in Sicherheit. Hier würden sie ihn niemals entdecken. Er dachte wehmütig an die vielen Sandwiches und Cola-Dosen, die drüben in der Kantine auf ihn warteten. Aber jetzt war es zu spät, um sich darüber Sorgen zu machen. Er würde am Leben bleiben. Er war ein Matsumoto.
Ein paar Minuten später hörte Masao einen lauten Knall. Die Heckklappe wurde zugeschlagen, und er war in der Finsternis des Lastwagens eingesperrt. Er hörte, wie der Motor ansprang, und spürte das Beben des großen Fahrzeugs, als es sich in Bewegung setzte.
Er war unterwegs – nach Los Angeles, Kalifornien.
Zehntes Kapitel
Er war in einem schönen Restaurant in Kyoto, er saß an einem Tisch mit herrlichem weißen Leinen und goldenen Eßstäbchen. Das Restaurant war groß, aber er war der einzige Gast. Es war friedlich und still, das einzige Geräusch war das Klingeln der Windharfe draußen vor der Tür. Ein Kellner kam an seinen Tisch und brachte eine Platte, und auf der Platte lag ein Fisch.
Dies wurde extra für dich gekocht, sagte der Kellner. Der Fisch sah köstlich aus, und er war hungrig. Er nahm die Eßstäbchen in die Hand und gabelte ein Stück Fisch auf und steckte es in den Mund. Im selben Moment wußte er, daß der Fisch ein giftiger Fugu war. Er blickte auf und erkannte, daß der Kellner sein Onkel Teruo war, der ihn angrinste.
Er stand auf und rannte aus dem Lokal und befand sich im Moosgarten des Kokedera-Tempels.
In der Ferne läutete eine Glocke, und Masao sagte, es ist Essenszeit. Wir können ins Dorf gehen und essen.
Nein, nein, warnte Masaos Vater. Das Dorf ist gefährlich für dich. Es ist besser, du bleibst hier und hungerst.
Aber, Vater, ich bin hungrig und durstig.
Masaos Mutter hielt etwas mit beiden Händen empor und sagte, trink das, und es war Schnee. Masao schaute sich um und sah, daß sie sich in den japanischen Alpen befanden; der Boden war schneebedeckt, und er zitterte vor Kälte.
Masao erwachte im kalten Laderaum des Lastzugs, seine Zähne klapperten, und er erinnerte sich an seinen Traum. Er war hungrig und durstig. Aber wenigstens, dachte Masao; bin ich auf dem Weg in die Sicherheit. Es machte ihm nichts aus, daß er fror und Hunger hatte. Er konnte es ertragen. Er würde alles ertragen, um Teruo Sato zu besiegen.
Gegen Hunger und Durst konnte Masao nichts ausrichten, wohl aber gegen die Kälte. Er kroch in der Finsternis umher, bis er eine schwere Wolldecke fand, die über einen Tisch gebreitet lag. Er zog die Decke zu sich heran und wickelte sich ein. Er fragte sich, wie lange er wohl geschlafen hatte, wie weit der Truck inzwischen gefahren war und wo sie sich jetzt befanden. Er hatte keine Ahnung, ob es Tag oder Nacht war. Er versuchte sich zu erinnern, was er über die Geographie Amerikas gelesen hatte. Westlich von New York lag Pennsylvania; dann kamen Ohio, Indiana und Illinois. Und Illinois – das war erst ein Drittel des Weges bis zur Westküste der Vereinigten Staaten.
Wenn er schon jetzt solchen Hunger und Durst hatte, wie sollte er den Rest der Fahrt überstehen? Er mußte es schaffen, denn die Ladeklappe des Lastwagens würde nicht geöffnet werden, bis er sein Ziel erreichte – dreitausend Meilen vom Ausgangspunkt entfernt. Bis dahin war er eingesperrt, und niemand konnte ihn finden.
Das gemächliche, rhythmische Schaukeln des Trucks wiegte Masao schließlich wieder in den Schlaf. Er kuschelte sich in seine Decke und träumte.
Er träumte, daß er daheim im Sommerhaus der Familie in Karuizawa war und nach seinem Vater und seiner Mutter suchte … dann war er im Kinkakuji in Kyoto, aber sie waren nicht da. Er suchte sie in der großen Halle des Asakusa-Tempels in Tokyo, und dann lag er in einem Fischerboot vor der Insel Yoron, und das Boot war voll von Sardinen und Barschen und Thunfisch und Tintenfischen und Gelbschwanz und Krabben …
Er träumte von Sanae. Sie stand am Ufer, in der Finsternis, und rief ihm zu: Der Feind ist hier. Laß dich nicht erwischen, sonst wird er dich töten. Und dann wurde sie zur Seite gerissen, und ein strahlender Scheinwerfer leuchtete Masao ins Gesicht, und eine Männerstimme brüllte: »Steh auf! Wir wissen, daß du da bist!«
Masao versuchte, sich noch tiefer im Fischerboot zu verkriechen, aber die Stimme brüllte weiter, und der Lichtstrahl blendete ihn. Masao schlug die Augen auf und wußte, daß dies kein Traum war.
Da stand ein Mann auf der Ladepritsche des Lastwagens und leuchtete Masao mit einer Taschenlampe ins Gesicht. »Steh auf, du! Raus aus dem Wagen!«
Masao blinzelte und setzte sich auf. Die Ladeklappe des Lastwagens stand offen, und der Lastwagen rollte nicht mehr. Natürlich konnten sie noch nicht in Kalifornien angekommen sein. War etwas schiefgelaufen? Wie konnte jemand wissen, daß er hier war? Er hatte sich doch so gut versteckt! Vielleicht hatte ihn jemand beobachtet, wie er in den Lastwagen schlüpfte, und die Polizei oder seinen Onkel informiert. Diesmal, das wußte Masao, war Flucht ausgeschlossen. Langsam stand er auf und tastete sich zum Ausgang vor. Seine Glieder waren steif und schmerzten. Er erkannte den Mann auf der Ladepritsche. Es war der Fernfahrer.
Masao sprang von der Pritsche ab und schaute sich um. Sie standen auf einer Wiegebühne am Rand des Highways. Neben dem Wiegehäuschen parkte ein Streifenwagen.
»Woher wußten Sie, daß ich mich im Lastwagen verstecke?« fragte Masao.
Der Fahrer lachte. »Mathematik, mein Junge. Diese Lastwagen werden bei der Abfahrt auf dem Frachthof gewogen. Wir müssen immer wieder an den staatlichen Wiegestationen am Rande der Autobahn anhalten, um sicherzustellen, daß wir nicht zuviel Ladung transportieren.« Er deutete auf die riesige Wiegebühne, auf der der Lastwagen parkte. »Diese Ladung wiegt 150 Pfund mehr als beim Start in New Jersey.«
So eine blöde Geschichte war ihm also zum Verhängnis geworden! Masao kniff die Augen zusammen. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe, er hatte Hunger und Durst. Er schaute zum Streifenwagen hinüber. »Was werden Sie mit mir machen?«
Er merkte, wie er auf seinen Beinen schwankte.
Der Fahrer musterte ihn. »Heh! Bist du in Ordnung?«
»Ja, Sir.«
»Wann hast du zuletzt etwas gegessen?«
»Ich … ich weiß nicht«, sagte Masao aufrichtig.
»Ich glaube, wir werden dir erst mal etwas zu essen geben und dann entscheiden, was wir mit dir machen sollen. Du warst zwei Tage lang da drin eingesperrt.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin Al.«
Masao schüttelte ihm die Hand. »Ich bin Masao.«
Der Fahrer deutete auf den Beifahrer. »Das ist Pete.«
»Guten Tag, Sir.«
»Los, mach dich erst mal sauber«, sagte Al.
Sie marschierten auf eine große Cafeteria neben der Wiegestation los, und Masao war überrascht, wie schwach er sich fühlte. Er stolperte, und Al schob ihm eine Hand unter den Arm, um ihn zu stützen. Selbst wenn er’s gewollt hätte, war Masao zu schwach, um zu fliehen.
»Du weißt ja, daß das gesetzlich verboten ist«, sagte Al.