Sanae preßte ihre Lippen zusammen und sagte nichts.
Er musterte sie eine Weile. »Wissen Sie, wer Masao ist?«
Sanae nickte. »Er ist Masao Harada.«
Der Detektiv ließ sie bei ihrem Irrtum. »Wissen Sie auch, warum er auf der Flucht ist?«
»Ja, weil sein Vater ihn nach Japan zurückbringen will. Aber Masao will nicht.«
Das also war Masaos Story! Lieutenant Brannigan mußte eine rasche Entscheidung treffen. Er hatte keine festen Beweise für seine Vermutung in der Hand. Und doch wußte er, wenn er diese Vermutung nicht aussprach, gab es keine Möglichkeit, Sanae zu überzeugen.
»Hören Sie mir gut zu«, sagte er. »Masaos richtiger Name ist Masao Matsumoto. Diese Firma trägt den Namen seines Vaters.«
Sanae starrte ihn ungläubig an. »Wollen Sie damit sagen, er gehört zur Familie Matsumoto?«
»Er ist der Sohn.«
»Das glaube ich nicht …«
»Hören Sie mich zu Ende an. Masaos Vater wurde ermordet. Masao hat das Matsumoto-Imperium geerbt.«
Sanae beobachtete ihn mit mißtrauischem Blick und versuchte zu begreifen, was er gesagt hatte.
»Die Sache hat nur einen Haken. Wenn dem Jungen etwas passiert, wird der Onkel alles erben. Fünf Menschen wurden bereits ermordet. Ich glaube, Masaos Onkel wird versuchen, auch ihn zu ermorden.«
»Oh, mein Gott!« Jetzt war alle Farbe aus Sanaes Gesicht gewichen. Sie glaubte ihm. Er hatte keinen Grund, eine solche Geschichte zu erfinden. Sie erinnerte sich an den Tag, als Teruo Sato in die Fabrik gekommen war. Masao hatte sein Gesicht versteckt. Sind sie fort? hatte er gefragt. Und sie erinnerte sich, wie er sie aus dem Baseball-Stadion fortgezerrt hatte, bevor das Spiel zu Ende war, und wie die Polizei die Tribünen absuchte – und wie Masao in ihrer Wohnung vor dem Detektiv geflüchtet war. Ja, auf einmal ergab das alles einen Sinn!
»Sein Onkel hat eine ganze Armee von Männern in Marsch gesetzt, um ihn zu suchen«, sagte Lieutenant Brannigan. »Masao hat niemand, an den er sich wenden kann. Wenn sie ihn zuerst finden, ist er tot, Sanae. Diese Leute scheuen vor nichts zurück. Ich muß ihn finden, bevor sie ihn finden. Aber ich weiß nicht, wo ich ihn suchen soll. Ich weiß nicht, wohin er fahren will, oder …«
»Nach Kalifornien.« Sanae preßte sich die Hand auf den Mund. Sie hatte gar nicht gemerkt, daß sie etwas sagte.
»Wo in Kalifornien?« In seiner Stimme lag ein Drängen, das Sanae auf einmal mißtrauisch machte. Wie, wenn nur ein Teil seiner Geschichte stimmte? Wie, wenn er auf Teruos Seite stand und Masao suchte, um ihn seinem Onkel in die Hände zu liefern?
»Ich weiß nicht«, sagte Sanae. Sie sah die Enttäuschung im Gesicht des Detektivs.
»Hat er Ihnen denn keine Andeutung gemacht? Hat er denn keinen Namen erwähnt? Irgend jemand, den er um Hilfe bitten könnte?«
Er hatte einen Namen erwähnt. Seinen Freund Kunio Hidaka.
Sanae blickte dem Detektiv fest in die Augen und sagte: »Nein, er hat niemanden erwähnt.«
Sie würde sich von diesem Polizisten nicht durch einen Trick überlisten lassen, ihm zu helfen, damit er Masao fangen konnte.
Lieutenant Brannigan seufzte. »Schade. Nun, jedenfalls vielen Dank.« Er stand auf. »Sollten Sie sich doch noch an etwas erinnern, rufen Sie mich bitte an.« Er griff in seine Tasche. »Hier ist meine Visitenkarte.«
Sanae steckte die Karte ein, ohne sie anzusehen. Sie hatte nicht die Absicht, sie zu benutzen.
Elftes Kapitel
»Wir sind gleich in Los Angeles«, verkündete Al.
Masao konnte es kaum glauben, daß sie ihr Ziel wahrhaftig erreicht hatten.
Die Fahrt durch das Land war faszinierend gewesen. Es war, wie sein Vater ihm gesagt hatte: Amerika hatte fünfzig Staaten, und jeder Staat war ein Land für sich. Masao hatte die Häfen von New York gesehen, die reichen Farmen von Indiana und Illinois, die weiten Prärien von Texas und die unfruchtbare Wüste von Arizona. Als sie dann nach Kalifornien kamen, wurde das Land grün und farbenprächtig und reich an Früchten und Blumen, und es erinnerte Masao an seine Heimat. In den letzten zwei Stunden waren die Farmen und satten Weiden zuerst von vereinzelten Häusern und Fabriken, dann von Kleinstädten und Vororten abgelöst worden. Und jetzt sahen sie schon die Wolkenkratzer von Los Angeles selbst. Die Skyline war nicht so gewaltig wie die von Manhattan, aber Masao fand, daß sie sauberer und moderner wirkte.
Zum erstenmal, seit dieser unglaubliche Alptraum angefangen hatte, fühlte sich Masao in Sicherheit. Er hatte es geschafft, seinem Onkel und der Polizei von New York zu entkommen und nach Kalifornien zu fahren. Kunio Hidaka würde ihm helfen. Wenn Mr. Hidaka erst die ganze Geschichte erfuhr, würde er wissen, was zu tun war.
Während der sechstägigen Reise hatte Masao den Fahrer Al und seinen Gehilfen Pete besser kennengelernt. Er hatte von ihren Frauen und ihren Kindern gehört und erfahren, wie die amerikanischen Arbeiter denken. Sie waren freundlich und großzügig, offen und unkompliziert. Masao hatte das Gefühl, daß es gut war, solche Freunde zu haben – aber schlimm, sie zum Feind zu haben. Sie lachten über Masaos Aussprache gewisser schwieriger Wörter, aber es war kein unfreundliches Lachen. »Du mußt noch dein r verbessern«, ermahnte ihn Pete. »Wie du es aussprichst, klingt es eher wie l. Wenn du zum Beispiel Reis sagst, klingt es wie Läus. Reis ist etwas zum Essen, Läuse kämmt man sich aus den Haaren!«
Masao überlegte, wie sie sich anstellen würden, Japanisch zu sprechen, aber er bemühte sich, die Wörter sorgfältiger auszusprechen. Eine Sache, die Masao bei seinen neuen Freunden nicht verstand, war ihre Einstellung zur Gewerkschaft. Sie gehörten zur berühmten Teamster’s Union.
»Die mächtigste Gewerkschaft der Welt«, prahlte Al. »Wir könnten dieses Land binnen vierundzwanzig Stunden auf die Knie zwingen.«
»Aber warum wollt ihr das?« fragte Masao.
»Ach, das ist nur so eine Redensart. Ich meine – unsere Arbeitgeber müssen uns alles geben, was wir verlangen.«
Masao versuchte, ihnen die Einstellung der Arbeiter in Japan zu erklären. »Es ist wie eine große Familie. Der Arbeiter ist sein Leben lang gut versorgt. Er weiß, daß er nicht entlassen wird. Der Wohlstand des Unternehmens ist sein Wohlstand. Er ist sehr stolz auf seine Arbeit.«
»Andre Völker, andre Sitten«, sagte Pete.
Damit war das Gespräch beendet.
Als die Hochhäuser der City von Los Angeles vor ihnen aufragten, sagte Aclass="underline" »Wir kommen genau nach Fahrplan.«
Der Lastzug verließ die Autobahn und bog in die San Pedro Street ein. Ein paar Minuten später rollten sie auf einen riesigen Verladehof. Al bremste den mächtigen Truck weich ab und schaltete den Motor aus.
Er drehte sich zu Masao um. »Kommst du jetzt klar, Junge?«
»Ja, vielen Dank. Ich komm jetzt alleine weiter.«
»Laß dich nicht erwischen«, sagte Pete.
Masao schaute ihn erschrocken an. »Mich erwischen lassen?«
»Du weißt schon. Zurück in die Schule.«
»Oh«, stotterte Masao. »Ich … ich werd schon aufpassen.« Er hatte die Story ganz vergessen, die er ihnen erzählt hatte.
Er kletterte aus der Führerkanzel. »Ich möchte euch beiden vielmals danken. Ich werde euch immer dankbar sein.«
Er meinte es aufrichtiger, als sie ahnen konnten. Sie hatten ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Masao wollte irgendwie tiefe Dankbarkeit zeigen. »Falls ihr jemals nach Tokyo kommt«, sagte er, »wäre es mir eine Ehre, euch zu bewirten.«