Masao ahnte gar nicht, was für ein Glück er gehabt hatte, denn im Disneyland-Park suchten ihn bereits ein Dutzend Männer, und er war ihnen nur durch Zufall im Gewimmel der Menschenmenge entgangen.
Morgen, dachte Masao, will ich die Tour durch die Universal-Studios machen.
Dabei hatte er, wie sich zeigen sollte, weniger Glück.
Mit dem Bus nach Hollywood zurückgekehrt, fand Masao ein kleines Hotel, nicht weit vom Sunset Strip. In Disneyland hatte er den ganzen Nachmittag genascht: Hot Dogs und Popcorn und Eiskrem. Jetzt aber hatte er richtigen Hunger. Masao setzte sich wieder in ein deutsches Bierlokal, wo ihn wahrscheinlich niemand suchen würde.
Gegenüber, auf der anderen Straßenseite des Sunset Strip, war das Whisky-a-Go-Go, eine Diskothek. Einer Eingebung folgend, ging Masao hinein. Es war wie ein Gang durch die Hölle. Stroboskop-Blitze zuckten durch den Saal, und über die Lautsprecher dröhnte der Disko-Beat so gewaltig, daß man keinen klaren Gedanken fassen konnte. Auf einer erhöhten Plattform wirbelten zwei halbnackte Mädchen umher, und auf der Tanzfläche davor übten ein Dutzend Pärchen die neuesten Schritte.
Ein attraktives japanisches Mädchen nickte Masao zu. »Magst du tanzen?«
Masao war in Versuchung, ja zu sagen, aber da gab es zwei Probleme: Erstens ging er gerne in Diskos, und das wußte Teruo wahrscheinlich. Und zweitens konnte auch dieses Mädchen eine Spionin sein, die ihm nachstellte. Darum sagte Masao höflich: »Nein, danke. Ich wollte sowieso gerade gehen.«
Er lief ein weites Stück durch die Straßen, bis er sicher war, daß niemand ihm folgte, und kehrte dann in sein Hotel zurück.
Erschöpft fiel er ins Bett, aber er konnte nicht einschlafen. Noch zwei Tage, bis Kunio Hidaka wiederkam. Ich werde morgen früh noch einmal anrufen, dachte Masao. Vielleicht können sie ihm inzwischen eine Nachricht von mir ausrichten.
Er dachte an Al und Pete und an die lange Fahrt quer durch die Vereinigten Staaten.
Er dachte an das Matterhorn und die Reise im Unterseeboot.
Er dachte an das japanische Mädchen in der Disko. War sie eine von ihnen?
Er dachte an Sanae.
Der Schlaf wollte nicht kommen.
Sanae konnte nicht einschlafen. Sie lag im Dunkel und warf sich hin und her. Und endlich, als sie es nicht mehr aushalten konnte, zog sie sich einen Bademantel an und ging in die Küche, sorgsam bedacht, Vater und Mutter nicht aufzuwecken. Sie kochte sich eine Tasse Kaffee, auf die sie gar keinen Durst hatte, und setzte sich an den Tisch, um ihn mit kleinen Schlucken zu trinken. Sie überlegte, was sie tun sollte. Am Nachmittag waren alle möglichen wilden Gerüchte durch die Fabrik geschwirrt.
»Wißt ihr schon«, hatte der Mann, der neben ihr arbeitete, gefragt, »daß der Junge, der hier war, angeblich Masao Matsumoto ist? Ich habe gehört, daß Mr. Sato der neue Besitzer sein soll.«
Sanae hatte einen gewaltigen Schrecken bekommen. Der Polizist hatte also die Wahrheit gesagt! Und wenn er in diesem Fall die Wahrheit gesagt hatte, dann war vielleicht auch alles andere, was er gesagt hatte, wahr – daß Masao in Lebensgefahr schwebte, daß Masao getötet werden würde, falls sein Onkel ihn vor der Polizei aufspürte. Und sie wäre schuld daran. Andererseits – wenn es ein Trick war? Wie, wenn Lieutenant Matt Brannigan die Absicht hatte, Masao wegen Mordes ins Gefängnis zu stecken?
Sanae starrte das Telefon an und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie wußte nur, daß das Leben eines Menschen, den sie sehr gern hatte, in ihrer Hand lag. Sie betrachtete die Visitenkarte, die der Detektiv ihr gegeben hatte. Sollten Sie sich doch noch an etwas erinnern, rufen Sie mich bitte an. Zweimal streckte sie die Hand nach dem Telefonhörer aus, und zweimal zog sie die Hand wieder zurück. Sie wagte nicht, einen Fehler zu machen. Wer waren Masaos Freunde und wer waren seine Feinde?
Am Morgen verließ Masao sein Hotel und suchte eine Telefonzelle. Es gab ein Telefon in der Lobby, aber Telefone konnten abgehört werden. Er wählte die Nummer von Matsumoto Industries und wurde mit Kunio Hidakas Büro verbunden.
»Ich habe gestern schon einmal angerufen«, sagte Masao. »Ich muß ganz dringend Mr. Hidaka sprechen. Ich habe gehofft, er ist vielleicht früher zurückgekehrt.«
»Tut mir leid«, sagte die Sekretärin. »Er ist erst morgen wieder hier.«
Noch ein Tag verloren!
»Falls Sie ihm eine Nachricht hinterlassen wollen …«
»Vielen Dank. Ich rufe morgen früh wieder an.« Er mußte eine Möglichkeit finden, sich noch einmal einen Tag zu verstecken. In vierundzwanzig Stunden würde alles vorbei sein.
Er würde die Tour durch die Universal-Studios machen. Dort konnte er in der Menge untertauchen.
Sie warteten auf die Züge der Glamour-Tram, Hunderte von Touristen aus allen Teilen der Welt, und alle wollten die Universal-Filmstudios sehen. Da waren Deutsche und Italiener und Franzosen und Japaner und Schweden, und alle schwatzten in ihren Muttersprachen drauflos.
Masao stand inmitten der wartenden Menge. Er fühlte sich in Sicherheit.
Eine Fremdenführerin sagte: »Machen Sie sich bereit, Herrschaften. Steigen Sie ein in die Glamour-Tram und nehmen Sie Ihre Plätze ein. Das Abenteuer beginnt.«
Die Glamour-Tram bestand aus drei orange und weiß gestrichenen Waggons, die aneinandergekoppelt waren. Sie hatten gestreifte Baldachin-Dächer und offene Seiten. Als der Zug hielt, stieg Masao ein und suchte sich einen Sitzplatz. Verstohlen musterte er die anderen Passagiere, aber keiner schien sich besonders für ihn zu interessieren. Die Bahn ruckte an, und die Fremdenführerin, ein attraktives junges Mädchen, begann mit ihrer Ansprache.
»Willkommen in den Universal-Studios. Bis zum heutigen Tag hatten wir 26 Millionen Besucher, und wir freuen uns, Sie heute begrüßen zu dürfen. Die Universal-Studios wurden im Jahr 1915 eröffnet, als Carl Laemmle …«
Masao hörte nicht weiter zu. Er beobachtete die unglaublichen Szenen, die sich draußen abspielten. Er sah Schauspieler, die in Ritterrüstungen einherschritten, Mädchen in Bikinis und Männer in Cowboy-Kostümen. Die Bahn kurvte um ein abgelegenes Gelände, wo ein altes Herrenhaus im Stil der Südstaaten stand. Die Vorderseite des Herrenhauses sah prächtig aus, aber als die Bahn um die Ecke bog, sah Masao, daß das ganze Gebäude nur eine Fassade aus Brettern und Balken war.
Dann ratterte der Zug über eine Holzbrücke, und als sie in der Mitte angelangt war, sank die Brücke in sich zusammen. Trotzdem erreichte die Tram sicher das andere Ufer, und jetzt richtete die Brücke sich ganz von selbst in ihre ursprüngliche Lage auf.
Sie kamen an einem friedlichen See mit einem kleinen Dorf im Hintergrund vorbei.
»Dies ist Amityville«, erklärte die Führerin. Sie deutete auf die Mitte der Wasserfläche. »Passen Sie auf!« Alle Augen wandten sich dem unbestimmten Etwas zu, das auf die Tram zugeschossen kam. »Es ist der Weiße Hai!« keuchten die Touristen, als der mechanische Haifisch neben der Bahn das Wasser peitschte. Dann tauchte er wieder unter und griff die Figur eines Fischers in seinem Ruderboot an, das er zum Kentern brachte. Masao hatte den Film Der Weiße Hai gesehen und konnte über das kleine Drama lachen.
Jetzt näherten sie sich einem anderen See, und die Tram ratterte direkt auf das Wasser zu. Die Passagiere wurden allmählich nervös.
»Dies ist das Rote Meer«, erklärte die Führerin, »und wir werden mitten hindurchfahren.« Als die Tram über die Uferböschung brauste, teilten sich wie durch Wunderkraft vor ihr die Wasser.