Masao hörte Stimmen aus der Bibliothek und näherte sich. Er hörte seinen Onkel und seine Tante, die mit erhobener Stimme sprachen. Masao wollte gerade eintreten, als er seinen Namen hörte. Er blieb stehen, weil er nicht ausgerechnet in diesem Moment hereinplatzen wollte. Die Tante sagte etwas, das Masao nicht verstand, und dann rief sein Onkel wütend aus: »Es ist einfach unfair! Ich habe mitgeholfen, diese Firma aufzubauen. Ich habe Jahre meines Lebens dafür geopfert. Ich hätte verdient, sie zu erben.«
»Yoneo war immer sehr großzügig zu dir, Teruo. Er …«
»Dein Bruder hat mich nie leiden können. Nie! Hätte er es getan, dann hätte er niemals Masao zum Erben eingesetzt.«
»Masao ist sein Sohn.«
»Er ist noch ein Kind. Wie könnte er eine Firma leiten?«
»Jetzt natürlich noch nicht. Aber eines Tages. Mit deiner Hilfe könnte er …«
»Sei nicht so dumm, Sachiko. Warum sollte ich Masao helfen, damit er mir die Firma wegnehmen kann? Nein. Es ist einfach ungerecht.«
»Aber das Problem …«
»Da gibt’s kein Problem.«
Zweites Kapitel
Entsetzt stand Masao draußen vor der Bibliothek. Er konnte nicht glauben, was er eben gehört hatte. Plante sein Onkel etwa, ihn aus dem Weg zu räumen? Einen Augenblick dachte Masao daran, hineinzulaufen und seinem Onkel gegenüberzutreten. Aber dann dachte er an Higashi, den riesigen Chauffeur, und wie sein Onkel gesagt hatte: Wir haben kein Personal hier oben. Unser Besuch kam ganz unerwartet. Aber in einem Haus wie diesem gab es doch das ganze Jahr hindurch Personal! fiel Masao ein. Sein Onkel hatte die Leute also fortgeschickt; er mußte von dem Testament gewußt haben. Und er hatte es so eingerichtet, daß Masao ihm hier allein ausgeliefert war. Der riesige Higashi war ein Teil dieses Plans …
Masaos Herz klopfte so laut, daß er fürchtete, die Tante und der Onkel könnten es hören. Leise schlich er sich von der Tür zur Bibliothek fort und eilte lautlos in sein Schlafzimmer hinauf. Er mußte nachdenken. Er durfte nicht hysterisch werden. Aber war er nicht das einzige Hindernis, das Onkel Teruo vom Besitz des großen Matsumoto-Imperiums trennte? Und sein Onkel bildete sich ein, er sei um diesen Besitz betrogen worden. Masao wußte, daß es nicht so war. Sein Vater war es, der die Firma gegründet und aufgebaut hatte. Er hatte seinen Schwager nur wegen Sachiko ins Geschäft genommen, und er hatte Teruo immer sehr gut behandelt. Und jetzt – plante Teruo, Masao zu ermorden?
Masaos Gedanken rasten. Wie konnte der Onkel ihn umbringen? Natürlich, es mußte wie ein Unfall oder noch besser wie ein Selbstmord aussehen. Und das Motiv für den Selbstmord lag auf der Hand. Masao hörte direkt, wie sein Onkel der Polizei erklärte: Der arme Junge war so verzweifelt über den tragischen Tod seiner Eltern, daß er seinem Leben ein Ende setzte.
Masao schaute über die Brüstung auf den dunklen, unheimlichen See hinunter, und plötzlich sah er alles vor sich. Sein Onkel würde ihn ertränken. Er würde ihn auf den See hinauslocken, in einem der Boote, die zu der Hütte gehörten, und dann würden er und Higashi …
Teruo hatte gesagt, sie würden am nächsten Morgen nach Japan zurückkehren. Das bedeutete, daß der Mord noch in dieser Nacht geschehen mußte. Er mußte verschwinden, und zwar rasch verschwinden. Aber wohin? An wen konnte er sich wenden? Er hatte kein Geld, und er kannte keine Menschenseele in den Vereinigten Staaten. Er war sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt die Sprache verstand. Er mußte an die Szene auf dem Kennedy Airport denken, wo er kein Wort kapiert hatte von dem, was die Leute sagten.
Darüber kann ich mir später Sorgen machen, beschloß Masao. Die Hauptsache war jetzt, von hier zu verschwinden und Hilfe zu finden. Die Jagdhütte lag einsam, hoch in den Bergen, und er hatte keine anderen Häuser in der Nähe gesehen – keines, wo er anklopfen konnte. Plötzlich erinnerte sich Masao an die kleine Stadt, durch die sie auf der Fahrt hierher gekommen waren. Der Name blitzte vor seinem inneren Auge auf – Wellington. Dort mußte es ein Polizeirevier geben. Dort konnte er hingehen und erzählen, was sein Onkel vorhatte. Die Polizei würde ihn beschützen.
Aber zuerst mußte er von hier flüchten. Leise schlich sich Masao zur Schlafzimmertür und lauschte. Er hörte nichts. Er machte die Tür auf. Auf dem Flur war niemand. Er mußte aufpassen, daß er nicht mit Higashi zusammenstieß. Schaudernd erinnerte er sich an dessen gewaltige Arme.
Auf Zehenspitzen schlich Masao die Treppe hinunter, Schritt für Schritt, ängstlich bedacht, kein Geräusch zu machen. Er hörte noch immer Stimmen aus der Bibliothek. Aber jetzt waren es drei Stimmen. Teruo hatte Higashi hereingerufen. Masao brauchte gar nicht zu lauschen, um zu wissen, worüber sie sprachen. Er wandte sich in die andere Richtung, zur Küche. Die Tür war nicht verschlossen. Einen Augenblick später war er draußen im Park – in Sicherheit. Aber jetzt hieß es rennen, rennen ums nackte Leben.
Er lief durch die riesige Gartenpforte und bog auf die Straße ein, die zu der kleinen Stadt führte. Er blieb einen Moment stehen und horchte, ob im Haus Alarmzeichen laut wurden, aber es geschah nichts. Sie wußten noch nicht, daß er fort war.
Masao machte sich auf den langen Weg nach Wellington, immer bereit, sich zu verstecken, sobald er ein Auto kommen hörte. Aber die einzigen Laute, die er hörte, waren die Geräusche der Nacht: Die Grillen und Frösche und Heuschrecken, und das Seufzen des Windes in den Bäumen.
Masao fragte sich, was jetzt wohl droben in der Jagdhütte passierte. Vielleicht waren sie mit ihrer Beratung fertig. Sie würden einen Schock kriegen, wenn sie sahen, daß er verschwunden war und daß sie verloren hatten. Masao hatte im Fernsehen viele amerikanische Filme gesehen, und er wußte, wie tüchtig die Polizei war. Sie würde mit Teruo Sato fertig werden und ihn bestrafen.
Masao brauchte beinahe eine Stunde bis in die kleine Stadt. Wellington sah eigentlich eher wie ein Dorf aus. Es hatte einen kleinen Supermarkt, eine Gemüsehandlung, eine Wäscherei und ein Drug Store – alles nebeneinander an der Hauptstraße gelegen. Überall war geschlossen. Masao lief weiter, bis er ein kleines rotes Ziegelgebäude erreichte, an dem Polizeirevier stand.
Masaos Herz machte einen Luftsprung. Er hatte es geschafft. Er rannte die Treppe hinauf und fand sich in einer großen Schalterhalle wieder. Es roch nach altem Staub und Schimmel. Ein Polizist saß an seinem Schreibtisch und schrieb.
Als der Junge eintrat, blickte er auf.
»N’abendwaskannichfürdichtun ?«
Die Wörter gingen alle ineinander über und ergaben für Masao keinen Sinn. Er starrte den Polizisten verständnislos an.
»Waskannichfürdichtun?« Die Stimme des Polizisten klang ungeduldig.
Masao schluckte und sagte langsam: »Bitte, Sir, sprechen Sie nicht so schnell …«
Der Polizist nickte. »Okay. Was hast du für ein Problem?« Er sprach jetzt ganz langsam, und Masao verstand ihn.
»Mein Leben ist in Gefahr.«
Der Polizist murmelte irgend etwas, das sich anhörte wie: Alle Leute an die Wand, aber Masao wußte, das konnte nicht gemeint sein. Er beobachtete, wie der Polizist den Telefonhörer nahm und kurz in die Muschel sprach. Dann legte er auf und drehte sich zu Masao um. Ganz langsam sagte er: »Geh den Korridor hinunter, die erste Tür rechts. Der Lieutenant erwartet dich.«