Masao hielt inne. Verzweifelt klammerte er sich an den Ast und tat einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen. Zwischen ihm und dem Grund in der Tiefe war – nichts. Ein Ausrutscher, und er war tot wie Higashi. Langsam und vorsichtig umfaßte Masao den Baumstamm und begann hinabzuklettern, immer Ast um Ast, obwohl alles in ihm zur Eile drängte. Sein Onkel konnte Higashis Schrei gehört haben und jede Sekunde auftauchen. Er war eine hilflose Zielscheibe, wie er da zwischen Himmel und Erde hing. Aber Masao zwang sich, vorsichtig weiterzuklettern. Jeden Ast prüfte er, bevor er sich ihm anvertraute. Endlich, es schien Jahrhunderte zu dauern, war der Boden nicht mehr weit, und er sprang ab. Dann lag er im Gras, unfähig, sich zu bewegen, nach Atem ringend. Jeder Muskel seines Körpers schmerzte. Am liebsten wäre er für immer auf der kühlen Erde liegengeblieben. Aber er wußte, er mußte fort, und zwar rasch.
Aber wohin? Er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Zu Lieutenant Brannigan konnte er nicht zurück. Der würde nur wieder seinen Onkel anrufen, damit er kam und ihn holte. Und jetzt war da ein Toter. Sie würden ihm die Schuld geben.
Masao stand in der Dunkelheit, fröstelnd in seinem Unterhemd, und dachte nach. Er hatte kein Geld und keine Kleider, und sein Leben war in Gefahr. Plötzlich flammte oben im Haus ein Licht auf. Masao drehte sich um und rannte blindlings hinaus auf die Straße – nach nirgendwo.
Am Himmel stand ein strahlend heller Vollmond, und Masao nutzte sein Licht, um sich am Rand der Straße zu halten. Er fragte sich, was droben in der Hütte passiert sein mochte. Hatte Teruo bereits Higashis Leiche entdeckt? Suchte er schon nach Masao? Wie eine Antwort auf seine Fragen hörte er ein Auto brummen. Rasch suchte Masao hinter den Büschen Deckung. Eine Sekunde später rollte die vertraute Limousine langsam um die Kurve. Am Steuer saß Teruo; seine Augen suchten den Randstreifen zu beiden Seiten der Straße ab. Masao duckte sich tiefer ins Gebüsch und wartete, bis das Auto vorbei war. Erst als er das Surren des Motors nicht mehr hörte, verließ Masao sein Versteck und lief auf der Straße weiter. Zehn Minuten später hörte er das Motorengeräusch sich wieder nähern und sprang erneut in Deckung. Er beobachtete, wie sein Onkel in Richtung der Jagdhütte verschwand. Vielleicht glaubte er, daß Masao sich noch irgendwo im Park versteckte. Der Junge beschleunigte seine Schritte.
Als Masao das Städtchen Wellington erreichte, machte er einen Umweg, damit niemand ihn entdeckte. Den Fehler, zur Polizei zu gehen, würde er nicht wiederholen. Zum hundertstenmal überlegte er, wohin er gehen sollte. Das war schlimmer, als verirrt zu sein: er hatte überhaupt kein Ziel.
Der Kampf mit Higashi hatte ihn erschöpft, und Masao brauchte dringend eine Verschnaufpause. Aber er wußte, er mußte weiterlaufen. Wenn er eine Pause machte, konnten sie ihn erwischen, und er wußte, was das bedeutete. Es bedeutete den Tod. Also zwang er sich, weiterzulaufen, die ganze Nacht hindurch, immer einen Schritt nach dem anderen. Und jeder Schritt trug ihn weiter von seinem Onkel weg, entfernte ihn von der Gefahr.
Das lodernde Feuer, das Masao die Kraft gab weiterzulaufen, war seine Wut auf Teruo. Dem Onkel war es ganz egal, ob die Eltern ein angemessenes Begräbnis bekamen. Es ging ihm nur darum, die Firma an sich zu reißen, die Masao gehörte. Aber Masao war entschlossen, seinen Eltern das Begräbnis zu verschaffen, das sie verdienten. Irgendwie würde er ihre Asche nach Japan zurückbringen. Er wußte nicht, wie er es schaffen sollte. Er wußte nur, er würde es schaffen – oder sterben.
Die Nachtluft war kühl, und Masao begann in seinem T-Shirt zu frösteln. Es gab keine Möglichkeit, sich Kleider zu besorgen; keine Möglichkeit, sich aufzuwärmen. Er lief an verschlafenen Farmhäusern vorbei und dachte neidisch an die Menschen, die dort drinnen warm und gemütlich schliefen. Er fragte sich, wie lange er so weiterlaufen konnte. Die Zukunft lag finster vor ihm. Selbst wenn er jemanden fand, dem er seine Geschichte erzählen konnte, stand doch sein Wort gegen das Wort seines Onkels, und sein Onkel war ein Mann von hoher Stellung und großer Wichtigkeit. Sein Onkel hatte – wie sagte man gleich in Amerika? – Prestige. Lieutenant Brannigan hatte Masao nicht geglaubt. Niemand würde ihm glauben. Masao fühlte sich in einem Alptraum gefangen, aus dem es keinen Ausweg gab.
Ganz früh am nächsten Morgen fand sich Masao am Rand eines kleinen Städtchens wieder. Auf der Hauptstraße drängte sich eine Menschenmenge, und einen schrecklichen Augenblick dachte Masao, sie wären hinter ihm her. Aber die Menschen unterhielten sich nur und lachten. Irgendwie herrschte eine festliche Stimmung. Neugierig schlich sich Masao näher und blieb am Rand der Straße in Deckung, um zu beobachten, was da vor sich ging.
Es waren mindestens zwei Dutzend Männer, alle in Turnhose und T-Shirt gekleidet – genau wie er. Sie standen auf der Mitte der Straße, und andere Leute, alle in normaler Kleidung, drängten sich herbei. Verwundert starrte Masao hinüber, unfähig, sich vorzustellen, was da los sein mochte. Jetzt schob sich ein Mann durch die Menge und band den Männern Nummernschilder am Rücken fest – und jetzt begriff Masao endlich. Es war ein Volkslauf! Einen Moment hatte Masao Lust, mitzumachen. Er war genauso gekleidet wie die anderen, und es wäre eine perfekte Tarnung. Aber er wußte, daß er zu müde war. Er war völlig ausgepumpt, seelisch wie körperlich. Er war die ganze Nacht gelaufen und hatte einfach keine Kraft mehr. Er beschloß also zu warten, bis die Menschenmenge sich verlaufen hatte. Dann wollte er weitermarschieren.
Aber im gleichen Moment passierte etwas, das Masao zwang, es sich anders zu überlegen. Dort hinten, auf der Straße, kam die Limousine seines Onkels herangeschlichen. Die Flucht war doch nicht geglückt! Jeden Augenblick konnte er entdeckt werden!
Mit einem Sprung schlüpfte Masao zwischen die Gruppe der Männer in Turnhosen und Unterhemden.
Der Funktionär, der die Nummern verteilte, schaute Masao scharf an und sagte: »Beinah wärst du zu spät gekommen. Wir sind längst startbereit.«
Im nächsten Moment hatte auch Masao eine Nummer auf dem Rücken. Die Läufer nahmen Aufstellung, bereit für den Startschuß. Masao schob sich noch mehr in die Mitte, um sich zu verstecken. Er hatte gar nicht die Absicht, sich an dem Rennen zu beteiligen. Er wollte nur in der Menge Schutz suchen, bis sein Onkel fort war. Aber als der Starter jetzt die Pistole in die Luft hob, um das Startzeichen zu geben, sah Masao die schwarze Limousine direkt auf die Gruppe der Läufer zufahren. Dann kam der scharfe Knall der Pistole, und Masao rannte mit den anderen los – immer schön in der Mitte.
Als die Limousine an den Läufern vorbeischnurrte, zog Masao den Kopf ein. Langsam rollte die Limousine weiter. Masao war noch erschöpft von der langen Nacht, aber er hatte Angst, aus dem Feld der Läufer auszuscheren, weil sein Onkel jeden Moment zurückkehren konnte. Seine einzige Sicherheit bestand darin, die anderen als Tarnung zu benutzen. Und so machte sich Masao auf einen langen Wettlauf gefaßt. Er lief mit weit ausgreifenden, leichten Schritten, und weil er jung und kräftig war, fand er bald den richtigen Rhythmus. Dann begann er sich die anderen Konkurrenten anzusehen. Manche waren älter als er, aber viele waren ungefähr in seinem Alter. Masao fragte sich, was wohl der Anlaß dieses Laufes sein mochte, ob er jedes Jahr veranstaltet wurde und was hinterher passieren würde. Aber das alles war jetzt unwichtig. Das einzig Wichtige war: solange er mit den anderen lief, als einer unter vielen, war er in Sicherheit. Die anderen waren sein Schutz und seine Deckung.