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Allmählich spürte er seine alte Kraft wieder, und seine Beine liefen wie von selbst. Er legte etwas Tempo vor und überholte den einen oder anderen Läufer. Er war sich nicht sicher, wie er seine Kräfte einteilen sollte, denn er wußte nicht, wie lang die Strecke war. Es konnten fünf Kilometer sein oder auch zehn. Aber darüber, fand Masao, konnte er sich später Sorgen machen. Unaufhaltsam schob er sich vor, und bald lag wieder eine ganze Gruppe von Läufern hinter ihm. Er fing an, die frische Morgenbrise in seinem heißen Gesicht und die freie, leichte Bewegung seines Körpers zu genießen. Er blickte auf und entdeckte, daß nur noch ein halbes Dutzend Läufer vor ihm lagen. Wieder legte er Tempo zu, und dann waren nur noch fünf vor ihm, dann vier … und drei … Und Masao zog mit den beiden Läufern an der Spitze gleich. Sie begannen ihr Tempo zu beschleunigen, und Masao mußte kämpfen, um mit ihnen Schritt zu halten. Sein Herz pochte und seine Lungen brannten. Er war sich nicht sicher, ob er durchhalten würde. Es gab keinen Grund, warum er dies Rennen gewinnen sollte, es bedeutete ihm nichts. Und doch – er wußte, er mußte weitermachen. Es war eine Frage des Stolzes. Nachdem er zum Wettlauf angetreten war, mußte er ihn auch gewinnen. Der Zweitbeste wollte er nicht sein.

Also begann Masao noch schneller zu laufen, seine Arme und Beine pumpten wie die Kolben einer Maschine. Und nach ein paar Sekunden hatte er die Spitze erobert. Jetzt machte die Straße eine Kurve, und dort vorne lag ein Dorf. Quer über die Hauptstraße war ein Transparent gespannt: ZIEL.

Masao spürte, daß die beiden anderen Läufer aufholten, aber er rang sich noch einen letzten Spurt ab – und überquerte die Ziellinie vor ihnen. Auf einmal war er von einer Menschenmenge umringt, und alles war ein einziges aufgeregtes Durcheinander. Die Leute schüttelten ihm die Hand und gratulierten ihm, aber sie sprachen so schnell, daß er nicht verstand, was sie sagten.

»Schau her!« rief eine Stimme. Masao hob den Kopf und blickte in die Kameralinse eines Reporters, der ihn fürs Fernsehen filmte.

Es war unwirklich, wie ein Traum. Die Leute klopfen ihm den Rücken, legten ihm die Hand auf die Schulter.

»Du könntest bei der Olympiade starten …«

»Ich wette, du hast ’n Rekord gebrochen …«

»Bist du hier aus der Gegend …?«

Sie behandelten ihn alle, als wäre er so was wie ein Held. Anscheinend war es ein wichtiges Rennen für sie. Na, immerhin war es auch für ihn wichtig gewesen. Es hatte ihm das Leben gerettet. Er wünschte nur, die Leute würden etwas langsamer sprechen, damit er verstehen konnte, was sie sagten.

Ein würdig aussehender Mann kam zu Masao, riß seinen Arm in die Höhe und rief: »Ladies und Gentlemen! Ruhe, bitte!« Die Geräusche der Menge verstummten allmählich. »Dies ist ein großer Tag für uns alle. Unsere Gemeinde ist stolz darauf, das Fitneß-Programm des Präsidenten mitzugestalten. Dies ist schon das dritte Jahr, in dem ich diese Veranstaltung durchführe. Unsere Jugend von heute …«

Der Mann war vermutlich der Bürgermeister des Dorfes, überlegte Masao. Und er nutzte wohl den günstigen Augenblick, sich in der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu sonnen. Masao hatte keine Ahnung, wovon der Mann redete. Aber er blieb höflich stehen und wartete, bis der Bürgermeister seine Ansprache beendete, bis er endlich fortgehen konnte.

Aber jetzt kam noch eine Überraschung. Als die Rede vorbei war, wandte sich der Bürgermeister Masao zu und sagte: »Und jetzt habe ich, im Namen unserer Bürger, das Vergnügen, dir zur Erinnerung an diesen ruhmreichen Tag einen Scheck zu überreichen.« Und er drückte Masao einen Scheck über hundert Dollar in die Hand. Die waren vom Himmel gesandt.

»Vielen Dank«, stammelte Masao. »Ich … ich …« Das Wörtchen erfreut wollte ihm nicht einfallen. »Ich bin sehr angenehm.« Aus der Menge stiegen Lachen und Beifall auf, und dann liefen die Leute langsam auseinander. Masao betrachtete den Scheck in seiner Hand. Das erste, was er sich kaufen mußte, waren Kleider. Er wandte sich an einen Jungen, etwa in seinem Alter, der Jeans und ein buntes Sporthemd trug.

Masao hielt den Scheck in die Luft und sprach ganz langsam: »Entschuldige, sag mir doch bitte, wo kann ich …«

Er unterbrach sich mitten im Satz, weil ihm das Wort einlösen nicht einfiel. Im stillen verfluchte er sich, daß er im Englisch-Unterricht nicht besser aufgepaßt hatte.

Aber Masao hatte Glück. Der Junge verstand ihn. »Du willst’n einlösen? Da drüben, gleich an der Ecke, ist ’ne Bank. Komm mit. Ich zeig’s dir.«

»Ja.«

»Wo kommst du her?«

»Tokyo.«

»Heh, das ist toll. Ich heiße Jim Dale. Und du?«

»Masao …« Er hielt inne. »Masao Harada.«

»Nett, dich kennenzulernen, Masao.«

Sie waren vor der Bank angekommen. Plötzlich fiel Masao ein, daß er keinen Paß bei sich hatte, überhaupt keine Papiere. Vielleicht würden sie ihm den Scheck nicht einlösen. Er war reich wie ein König, besaß ein Vermögen auf Bankkonten überall auf der Welt, aber er konnte keinen Cent davon lockermachen. Er war arm wie ein Bettler. Dieser Hundert-Dollar-Scheck war das einzige, woran er sich halten konnte.

»Ich komm mit dir rein«, erbot sich Jim Dale.

Dem blonden Jungen machte es anscheinend Spaß, sich im Ruhm seines neuen Freundes zu baden. Sie marschierten in die Bank, und Jim Dale führte Masao zum Kassenschalter.

Er sagte zu der Frau am Schalter: »Hi, Miß Perkins. Mein Freund will einen Scheck einlösen.«

Die Kassiererin schaute Masao an und lächelte: »Ach, Siesindalso derjungederdasrennengewann.«

Masao starrte sie an. Wieder diese verdammte Sprache! »Wie … wie bitte?«

Sie wiederholte: »Siesindalso derjungederdasrennengewann.«

Auf einmal verstand Masao: Sie sind also der Junge, der das Rennen gewann. Er nickte. »Ja, Ma’am.«

Die Kassiererin nahm den Scheck und zählte fünf Zwanzigdollarscheine auf die Theke. Sie schob Masao das Geld zu. »Da haben Sie. Einhundert Dollar.«

Dankbar steckte er das Geld ein. »Vielen Dank.« Jetzt konnte er sich wenigstens Kleidung und Essen kaufen. Er drehte sich nach Jim Dale um. »Ich brauch was zum Anziehen. Weißt du …«

Jim nickte. »Kein Problem. Komm mit.«

Ein paar Minuten später betraten Masao und sein Freund einen Laden.

»Dies ist unser größtes Kaufhaus«, sagte Jim Dale stolz.

»Ist ja toll«, sagte Masao höflich. Es war winzig, verglichen mit den großen Kaufhäusern, die Masao von Japan gewöhnt war. Aber es würde seinen Zweck erfüllen. Jim führte Masao in die Kleider-Abteilung, wo eine Auswahl von Anzügen, Jeans und Hemden an den Stangen hingen. Masao suchte sich ein Paar Jeans und ein Sporthemd aus und probierte die Sachen gleich in der Kabine an. Sie paßten nicht gerade wie angegossen, aber es würde schon gehen. Wenigstens hatte er jetzt wieder etwas anzuziehen.

»Ich behalte sie gleich an«, sagte er zu dem Verkäufer.

Das nächste Problem war – etwas zu essen. »Gibt es eine Pizzeria hier in der Stadt?«

Jim Dale starrte ihn an. »Eine was

Masao dachte, er hätte das Wort vielleicht nicht richtig ausgesprochen. Er wiederholte es, ganz langsam. »Eine Piz-ze-ria.«