Der Junge errötete. »Klar. Wir haben ’ne ganz tolle. Bei Luigi. Ich hab nur gedacht … ich dachte … eßt ihr nicht japanisches Essen?«
Masao lachte. »Jeden Tag. Aber ich mag auch Hamburgers und Hot Dogs und Pizza.«
»Klasse, Mann. Komm mit!«
Bei Luigi war es voll und laut, schwatzende Oberschüler, die lachten und sich viel zu erzählen hatten. Masao kriegte Heimweh. Er war ein Fremder in einem fremden Land, und er hatte niemanden, mit dem er wirklich reden konnte.
Jim Dale sah ihn neugierig an. »Stimmt was nicht?«
Masao zwang sich ein Lächeln ab. »Doch. Alles in Ordnung. Die Pizza schmeckt herrlich.«
»Du kannst aber auch was wegstecken«, sagte der blonde Junge.
»Ich versteh dich nicht.«
»Ich meine, du hast ’n guten Appetit. Schätze, das kommt vom Wettrennen.«
Das Wort Rennen brachte Masao schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Eine ganze Weile hatte er seine Probleme vergessen, aber jetzt stürzten sie wieder wie ein Wasserfall auf ihn nieder. Jim würde hinterher, nach dem Essen, nach Hause gehen – zu seiner Familie, wo er geschützt und sicher war. Für Masao gab es nirgendwo Sicherheit. Er mußte weiter fliehen. Je weiter er von der Jagdhütte und seinem Onkel fortkam, desto besser für ihn. Hier war es zu gefährlich für ihn. Es war ein kleines Städtchen, und als Fremder fiel er hier auf. Er mußte in eine große Stadt fahren, wo er in der Menge untertauchen konnte.
»Wie weit ist es bis nach New York City?« fragte Masao.
»Nur ein paar Stunden von hier, mit dem Zug.« Jim Dale schaute auf die Uhr. »In zwanzig Minuten fährt einer.«
Masao würde mitfahren, das stand fest.
Viertes Kapitel
Sachiko schaute sich zufällig die Abendnachrichten im Fernsehen an, und so entdeckte sie Masao bei der Siegerehrung nach dem Volkslauf. Sie rief ihren Mann herbei, und beide beobachteten Masao auf dem Bildschirm.
Teruo erinnerte sich gleich, wie er morgens an den Läufern vorbeigefahren war. Also hatte sich Masao doch dort versteckt! So nahe war Teruo daran gewesen, ihn zu erwischen! Er hätte nicht gedacht, daß sich sein Neffe so lange vor ihm verbergen konnte. Immerhin war der Junge ohne Geld und ohne Kleider. Er hatte keine Freunde und wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis man ihn finden würde. Aber Teruo hatte keine Zeit zu verlieren. Er mußte Masao loswerden. Es war an der Zeit, Hilfe einzuschalten.
Da gab es einen Privatdetektiv, von dem Teruo Sato erfahren hatte. Ein schlauer, hartgesottener Profi namens Sam Collins, der für Geld alles machte. Er stand in dem Ruf, rücksichtslos vorzugehen und immer ans Ziel zu gelangen. Das war eine Kombination von Eigenschaften, die Teruo Sato imponierte. Er nahm den Telefonhörer ab und wählte Sam Collins’ Privatnummer.
Masao hatte geglaubt, er werde sich in Manhatten verloren fühlen, aber irgendwie, auf seltsame Art, kam ihm alles vertraut vor. Die großen Gebäude und der Lärm und die Menschenmenge und das Verkehrsgewühl – das alles erinnerte ihn an Tokyo. Und weil Masao viele amerikanische Filme gesehen hatte, erkannte er die Radio City Music Hall, das Empire State Building und das Rockefeller Center gleich wieder. Zum erstenmal, seit er vor seinem Onkel davongelaufen war, fühlte sich Masao ruhiger. Hier in der großen Stadt müßte es beinahe möglich sein, unentdeckt zu bleiben. Er verschwand in der treibenden Menge, zwischen all den Menschen, die durch die Straßen eilten – auf dem Weg zur Arbeit, zu Freunden, zur Untergrundbahn.
Masao schlenderte den Broadway entlang, er staunte über die großen Leuchtschriften an den Fassaden und bewunderte die Auslagen in den Schaufenstern. Er entdeckte, daß viele Geräte in den Schaufenstern aus Japan stammten – Transistorradios und Kameras, Fernseher und Kassettenrekorder. Und viele waren von Matsumoto Industries hergestellt. Das erfüllte Masao mit Stolz – und ein wenig mit Angst.
Er lauschte auf die Gespräche der Menschen um ihn her – und alle schienen sie verschiedene Sprachen zu sprechen. Er hatte gehört, daß Amerika ein Schmelztiegel der Völker sei, und das stimmte. Hierher kamen Menschen aus allen Teilen der Welt, und alle brachten sie ihre Sitten und Traditionen und ihre eigene Sprache mit. In den Schaufenstern hingen Werbetafeln in Spanisch und Französisch, in Deutsch, Italienisch und Japanisch.
Es wurde schon dunkel, und Masao wußte immer noch nicht, wo er die Nacht verbringen sollte. Er stellte sich in eine Toreinfahrt und zählte sein Geld. Er hatte noch sechzig Dollar. Er würde sehr sparsam mit seinem Geld umgehen müssen. Er mußte sich einen Job suchen und sein weiteres Vorgehen sorgfältig planen. Wen konnte er um Hilfe bitten?
Endlich fiel ihm Kunio Hidaka ein, der Chef der Amerika-Filiale von Matsumoto Industries. Aber sein Büro befand sich in Los Angeles, Kalifornien, am anderen Ende des Kontinents. Masao mußte eine Möglichkeit finden, hinzufahren. Mr. Hidaka war ein Freund. Er würde ihm Glauben schenken und ihm helfen. Er hatte Masaos Vater geliebt und war der Familie Matsumoto treu ergeben. Schon der Gedanke an ihn bewirkte, daß sich Masao besser fühlte. Er würde in New York bleiben, bis er genug Geld verdient hatte, um nach Kalifornien zu fahren. Es konnte nicht schwer sein, einen Job zu finden, denn er war bereit, alles zu machen – Geschirr zu waschen, Botengänge zu erledigen, Fußböden zu scheuern. Das einzig Wichtige war jetzt, am Leben zu bleiben. Jeder Tag, der verging, brachte ihm neue Sicherheit. Irgendwann würde dann sein Onkel die Suche nach ihm als ergebnislos abbrechen.
Teruo Sato war ein Mann, der sich nicht so leicht geschlagen gab. Bedächtig wie ein Schachmeister hatte er jeden Zug seines Spiels geplant, und er war nicht bereit, dieses Spiel jetzt aufzugeben.
Teruo hatte eine Verabredung mit Sam Collins. Der Privatdetektiv erfüllte vollauf Teruos Erwartungen. Collins war ein breitschultriger, zielstrebig wirkender Mann mit flinken Knopfaugen und dem zermatschten Gesicht eines Ex-Boxers. Ein Ohr war total verunstaltet, und seine Nase war so oft gebrochen, daß die Ärzte es schließlich aufgegeben hatten, sie zu operieren.
»Sie sind mir bestens empfohlen worden«, sagte Teruo. »Ich brauche jemanden, der verschwiegen ist.«
»Das ist mein Geschäftsprinzip. Ich mach meinen Job und halte den Mund.«
»Ausgezeichnet. Sie sollen einen Jungen finden. Meinen Neffen. Er hatte einen Nervenzusammenbruch. Ich will, daß er gefunden und hierher gebracht wird.«
»Ist er ausgerissen?«
»Das geht Sie nichts an.«
»Ich dachte nur, es könnte nützlich sein, zu wissen
»Ich werde Ihnen dieses Foto überlassen. Er hat keine Freunde und kein Geld. Er kann nicht sehr weit gekommen sein.«
»Ein japanischer Junge, der durch die Straßen läuft, ist nicht schwer zu entdecken.«
Teruo musterte Sam Collins. »Machen Sie nicht den Fehler, seine Intelligenz zu unterschätzen. Er wird sich verstecken.«
»Okay. Vielleicht wird es etwas dauern. Falls er …«
»Nein. Ich will, daß er schnellstens gefunden wird. Ich werde Ihnen das doppelte Honorar zahlen, und außerdem eine Prämie von fünfzigtausend Dollar, wenn Sie den Jungen schnell finden.«
Der Detektiv schluckte. »Fünfzig …?«
»Ja. Und da ist noch eines, was Sie wissen sollten. Mein Neffe hat bereits einen Mann ermordet. Falls Sie ihn in Selbstverteidigung töten müßten …« Teruo machte eine Pause und setzte vorsichtig hinzu: »… wird niemand Ihnen einen Vorwurf machen. Die Prämie gehört Ihnen trotzdem.«