III Der Freibeuter
Bolitho öffnete seine Augen und starrte einige Sekunden lang auf die gelöschte Lampe, die über seiner Koje schaukelte. Er konnte keinen Schlaf finden, obwohl er während der Nacht öfters an Deck gewesen war und bleierne Müdigkeit auf seinen Gliedern lastete. Hinter dem Vorhang, der sein Schlafabteil von der Kajüte trennte, sah er das bleiche Licht der Morgendämmerung. Das träge Pendeln der Laterne und unbehagliches Knarren der Balken verrieten ihm, daß nur eine leichte Brise wehte. Er versuchte sich zu entspannen und fragte sich, wie lange es wohl noch dauern mochte, bis er es sich abgewöhnt hätte, jeden Morgen mit der Dämmerung aufzuwachen, bis er sein neues Alleinsein genießen konnte.
Oben auf dem Achterdeck tappten Füße, und er vermutete, daß nun bald die neue Wache an Deck kommen mußte. Zwei Wochen waren vergangen, seitdem der Geleitzug in Antigua Anker gelichtet hatte, und sie hatten erst die Hälfte der vorausberechneten Strecke absegeln können. Tausend Seemeilen hatten sie inzwischen auf offener See zurückgelegt, und wenn sie sich nicht jede Meile gegen widrige Winde erkämpfen mußten, so dümpelten sie hilflos in nervenzerreißenden Flauten. Kaum verging eine Stunde, ohne daß die Seeleute an Deck gerufen wurden. Ständig mußten sie Segel setzen oder wegnehmen oder, in der Hoffnung, den letzten Hauch einer Brise einzufangen, die Rahen trimmen. Dann wieder zwang sie eine hohnlachende heftige Bö zum Reffen.
Buckles düstere Voraussagen über die Segeleigenschaften der Sparrow bei schwachem Wind hatten sich als nur allzu wahr erwiesen. Immer wieder war das Schiff mit flappenden Segeln und nervenzerrüttendem Ächzen und Klappen im Rigg abgetrieben, während sie bei abflauendem Wind im hohen Seegang schlingerten. Mit Fluchen und harter Arbeit war die Sparrow zwar immer wieder auf ihre Position gebracht worden, doch meist begannen noch vor Ende der Wache alle Mühen aufs neue. Seitdem die Korvette im Einsatz war, hatte die Besatzung meist Erkundungs- und Patrouillenfahrten unternommen, und nun mußte sie sich an das Elend des Geleitschutzsegelns über lange Strecken gewöhnen. Die beiden Transportschiffe machten ihr die Arbeit nicht gerade leicht. Die Frachtkapitäne schienen die Notwendigkeit, in geschlossener Formation zu segeln, nicht begreifen zu wollen. Wenn der Konvoi durch eine heftige Bö zerstreut wurde, vergingen meist viele Stunden, bis die trägen, schweren Schiffe mit Drängen und Drohen endlich wieder auf ihre Positionen getrieben waren. Die barschen Signale Colquhouns hatten lediglich erreicht, daß der Kapitän derGolden Vleece, einer der großen Transporter, in törichter Widerspenstigkeit alle Befehle mißachtete. In vielen Fällen hatte er sich überhaupt nicht um die Signale gekümmert und so die Fawn gezwungen, ihren Posten an der Spitze des Geleitzuges zu verlassen und ihre Anweisungen mit lautem Brüllen von Schiff zu Schiff durchzusetzen.
Bolitho kletterte aus seiner Koje und ging langsam durch die Kajüte. Unter seinen bloßen Füßen spürte er, wie sich die Sparrow leise anhob und dann wieder in ein Wellental hinunterglitt. Der Rudergänger versuchte, die Schiffsbewegungen, die vom üblichen Klappern der Blöcke und dem langgezogenen Quäken des Ruders begleitet waren, zu stützen.
Bolitho stemmte seine Hände auf das Sims der Heckfenster und starrte auf die leere See hinaus. Die beiden Transporter mußten — wenn sie überhaupt noch beisammen waren — irgendwo steuerbord voraus segeln. Sein Auftrag lautete, sich in Luv der schwerbeladenen Schiffe zu halten, so daß die Sparrow zu jedem verdächtigen fremden Schiff hin abfallen konnte und die größtmöglichen Segelvorteile hatte, bis sich herausstellte, ob es Freund oder Feind war.
Tatsächlich hatten sie bereits dreimal ein unbekanntes Segel gesichtet, Da es weit achteraus über der Kimm erschien, konnten sie nicht sehen, ob es jedesmal dasselbe Schiff war. Jedenfalls hatte sich Colquhoun geweigert, zur Erkundung zurückzusegeln. Bolitho konnte seine Abneigung, die wertvollen Transportschiffe zu verlassen, gut verstehen. Denn wenn die Geleitschutzkräfte aufgesplittert waren, konnte der Wind in seiner Launenhaftigkeit den wirklichen Feind mitten unter sie bringen. Andererseits konnte er sich jedesmal, wenn der Ausguck das fremde Schiff meldete, eines unguten Gefühls nicht erwehren. Das sonderbare Segel war wie ein Irrlicht. Sollte es ein Feind sein, so konnte er methodisch dem kleinen Konvoi folgen und auf die passende Stunde zum Angriff warten.
Die Tür öffnete sich, und Fitch schlich mit zwei Kannen herein. In einer dampfte Kaffee, in der anderen schwappte Bolithos Rasierwasser. Im blassen Morgenlicht sah der Diener magerer und kränklicher aus denn je, und wie gewöhnlich waren seine Augen abgewandt, während er die erste, so nötige Tasse Kaffee eingoß.
«Wie schaut's oben an Deck aus?»
Fitch hob kaum seine Augen.»Mr. Tilby meint, daß es wieder ein glutheißer Tag werden wird, Sir!»
Tilby war der Bootsmann. Er war ein riesiger, unordentlicher Schrank von einem Kerl, der die lästerlichsten Reden führte, die Bolitho in seiner zehnjährigen Laufbahn auf See gehört hatte. Aber seine Wetterkenntnisse, seine Voraussagen, was die nächste Dämmerung bringen würde, hatten noch nie versagt.
Unter sengender Sonne würden die Seeleute, die an Deck kaum Schatten und Kühlung finden konnten, nun wieder stundenlanger Pein ausgesetzt sein, bis sich der Abend über das Meer senkte. Überhaupt war es ein Wunder, wie sie alle zusammen in diesem kleinen Schiffsrumpf leben konnten. Bei all den Vorräten, Ersatzspieren, Pulver und Blei, bei den zahllosen Notwendigkeiten, die ein Schiff auf hoher See brauchte, konnten manche Leute kaum einen Platz für ihre Hängematte finden. Dazu noch mußte die Sparrow, wenn sie unterwegs war, die vielen Kabellängen der Ankertrosse sauber unter der Back stauen. Einige hundert Faden dreizehnzölligen Hanftaus für die Hauptanker und hundert Faden achtzölliger Trosse für den Warpanker nahmen mehr Platz weg, als fünfzig Mann selbst bei äußerster Beschränkung brauchten.
Wenn aber ein Schiff, nur auf die eigenen Hilfsmittel angewiesen, überleben wollte, dann mußte die Besatzung solche Unbequemlichkeiten ertragen.
Er trank seinen Kaffee. Wenn der Wind doch wenigstens ein bißchen auffrischen und durchstehen wollte. Das würde den Überdruß vertreiben und die Sklavenarbeit im Rigg erleichtern helfen. Und er fände Gelegenheit, die Geschützmannschaften zu drillen. Während der ersten Tage auf See hatten sie nur wenige Geschützübungen abhalten können, und doch war ihm die eigenartig gleichgültige Haltung aufgefallen, die er schon vorher bei den Kanonieren bemerkt hatte. Vielleicht hatten sie schon so lange nicht mehr im Gefecht gestanden, daß sie das Exerzieren am Geschütz nun lediglich als etwas ansahen, das man eben zu erdulden und von einem neuen Kapitän zu erwarten hatte. Sie waren leidlich schnell, wenn auch etwas steif gewesen. Sie hatten vom Ausrennen bis zum Richten und Zielen alle Befehle ausgeführt, aber wieder und wieder hatte Bolitho gespürt, daß es irgendwo gewaltig haperte. Wenn die Mannschaften durch die offenen Pforten auf die leere See hinausblickten, hatte er ihre Gleichgültigkeit gespürt. Ihre schlaffen Bewegungen schienen ihre Einstellung deutlich zu machen: Es gab keinen Feind zu beschießen, was zum Teufel sollte das dann alles!
Er hatte Tyrell deswegen zur Rede gestellt, aber der Erste Leutnant hatte fröhlich gesagt:»Verdammt, Sir, das heißt doch nicht, daß sie nicht wacker kämpfen können, wenn die Stunde gekommen ist.»
Bolithos scharfe Antwort richtete eine neue Schranke zwischen ihnen auf, und für den Augenblick wollte er es auch dabei belassen.
Kapitän Ransome mußte die Korvette als sein persönliches Eigentum angesehen haben, als seine Yacht vielleicht. Manchmal, wenn Bolitho in der Nacht von Deck herunterkam, wo er eine enttäuschende Stunde lang zugesehen hatte, wie die Leute schon wieder die Segel reffen mußten, dann hatte er sich Ransome mit irgendeiner Frau in der Kajüte vorgestellt. Oder er mußte an Tyrell denken, der auf dem Achterdeck auf und ab schritt und sich schier in Stücke riß, wenn er an seine Schwester nur ein paar Fuß unter ihm dachte. Er hatte diese Sache seit Tyrells erstem Ausbruch nicht mehr zu Sprache gebracht, aber er fragte sich doch, wie die Geschichte wirklich verlaufen sein mochte und was nach Ransomes plötzlichem Tod mit dem Mädchen geschehen sei.