Fitch war ein elender Kerl, der in seiner glücklosen Vergangenheit bereits des Diebstahls überführt worden war. Aber während er den Urteilsspruch des Schwurgerichts erwartete, hatte die rechtzeitige Ankunft eines Kriegsschiffes ihn vor Deportation oder gar noch Schlimmerem gerettet. Er diente ohne Freude in der Flotte und betrachtete sein Leben auf See lediglich als Strafabbuße. Doch schien er wenigstens ein brauchbarer Diener zu sein, und vielleicht fühlte er sich bei dieser Arbeit einigermaßen wohl. Seine Stellung ersparte ihm die Anstrengungen und Gefahren an Deck, und vorausgesetzt, daß sein jeweiliger Herr kein Unmensch war, hatte er wenig zu befürchten. Bolitho beobachtete ihn, wie er das Geschirr auf ein Tablett lud. Das Mahl war ausgezeichnet gewesen. Es hatte kalte Zunge mit frisch vom Land eingekauftem Gemüse gegeben, und der Bordeaux — die letzte Flasche aus Ransomes Vorrat, wie Fitch betrübt erklärte — war ein seltener Genuß gewesen.
«Hat Ihr letzter Kapitän — «, Bolitho sah, wie der Mann erstarrte —,»hat Kapitän Ransome irgendwelche Anweisungen wegen seines persönlichen Besitzes an Bord hinterlassen?»
Fitch senkte die Augen.»Mr. Tyrell hat sich bereits darum gekümmert, Sir. Die Sachen wurden auf ein nach England bestimmtes Transportschiff gebracht.»
«Er muß wohl ein ziemlich bedeutender Offizier gewesen sein?«Bolitho haßte es, jemand auf diese Art auszufragen, aber er fühlte, daß er irgendeine Beziehung — und sei sie noch so klein — zu dem Manne brauchte, der das Schiff vom Tag des Stapellaufs an befehligt hatte.
Fitch biß seine Lippen.»Er war ein strenger Kapitän, Sir. Er paßte auf, daß die Leute ihre Arbeit taten. Er war glücklich, wenn sie gehorchten, wenn nicht«- er zuckte seine ärmlichen Schultern —,»dann pflegte er ziemlich zu fluchen.»
Bolitho nickte.»Sie können gehen.»
Es war sinnlos, aus Fitch mehr herausholen zu wollen. Sein elendes Leben war nur mit äußeren Dingen beschäftigt: Essen und Trinken, eine warme Koje oder eine blitzschnelle Verwünschung, wenn sein Verhalten nicht den Anforderungen seines Herrn entsprach.
Über seinem Kopf stampften Füße, und er mußte sich zurückhalten, um nicht zu den Heckfenstern zu laufen oder auf einen Stuhl zu steigen und durch das Skylight über dem Tisch zu spähen. Er dachte an seine alten Kameraden in der Offiziersmesse auf der Trojan. Ob sie ihn wohl vermißten? Wahrscheinlich nicht. Durch seine Beförderung entstand eine Lücke, und so konnte ein anderer auf der Leiter der Dienstränge eine Sprosse höher klimmen. Er mußte über sich selbst lächeln. Es würde wohl einige Zeit brauchen, bis er in seine neue Rolle hineingewachsen wäre. Zeit und Wachsamkeit!
Jemand klopfte an die Tür. Mr. Buckle, der Steuermann, trat ein.»Haben Sie einen Augenblick Zeit, Sir?»
Bolitho deutete auf einen Stuhl. Auch dies war so anders als auf einem großen Kriegsschiff. In der Besatzung gab es keine Marineinfanterie, und Besucher der Kapitänskajüte schienen nach Belieben kommen und gehen zu können. Vielleicht hatte Ransome zu solchen Formlosigkeiten ermutigt.
Er beobachtete Buckle, wie er sich auf seinem Stuhl zurechtsetzte. Der Steuermann war ein untersetzter, vierschrötiger Mann mit ruhigen Augen und dunklen Haaren. Mit vierzig Jahren war er das älteste Besatzungsmitglied auf dem Schiff.
«Ich möchte Sie nicht stören, Sir«, begann Buckle. Er rückte verlegen auf seinem Stuhl.»Aber da der Erste Leutnant nicht an Bord ist, sollte ich vielleicht die Beförderung eines Seemannes mit Ihnen besprechen.»
Bolitho hörte schweigend zu, während Buckle alle Punkte aufzählte, die für einen Mann namens Raven sprachen. Es war nur eine interne Angelegenheit, aber Bolitho war sich ihrer Wichtigkeit voll bewußt. Zum ersten Mal stand er als Kapitän den Fragen seiner eigenen Mannschaft gegenüber.
Buckle fuhr fort:»Verzeihung, Sir, ich dachte, wir könnten ihn auf Bewährung zum Steuermannsmaat befördern.»
«Wie lange sind Sie schon Steuermann, Mr. Buckle?»
«Erst seit ich auf diesem Schiff bin, Sir. «Buckles klare Augen blickten kühl.»Vorher war ich Steuermannsmaat auf der alten Warrior mit vierundsiebzig Geschützen.»
«Sie haben sich auf Ihrem Posten bewährt, Mr. Buckle. «Er versuchte, aus dem Dialekt auf die engere Heimat des Mannes zu schließen. Vielleicht London oder etwas östlicher, Kent vielleicht.
«Wie segelt die Sparrow?»
Buckle schien die Antwort abzuwägen.
«Sie ist ziemlich schwer für ihre Größe, Sir, vierhundertunddreißig Tonnen. Aber je stärker der Wind, desto lebendiger wird das Schiff. Erst in einem wirklichen Sturm müssen Sie die Royalsegel wegnehmen lassen. «Er runzelte die Stirn.»In einer Flaute kann sie eine ganz verflixte Tochter des Teufels sein. «Er machte eine unbestimmte Handbewegung.»Sie haben sicher die kleinen Lücken im Schanzkleid neben jeder Stückpforte gesehen, Sir?»
Bolitho hatte sie nicht bemerkt.
«Ich bin nicht ganz sicher«, sagte er langsam.
Buckle lächelte zum ersten Mal.»In einer Flaute kann man einen Riemen durch jedes dieser Löcher stecken, Sir. Sie müssen nur alle Mann an Deck haben und jeden Kerl an die Riemen schicken, dann können Sie aus der Sparrow immer noch einen oder zwei Knoten herausholen.»
Bolitho blickte weg. Beim Lesen der Logbücher und der Schiffslisten hatte er nicht halb so viel erfahren. Leichter Ärger überkam ihn, weil sein Erster Leutnant noch immer nicht da war. Es war üblich, daß der abgehende Kapitän oder doch jedenfalls der Erste Offizier den neuen Kommandanten an Bord einwiesen und ihm Verhalten und Schwächen des Schiffes erläuterten.
«Sie werden die Sparrow bald in den Griff bekommen, Sir, sie ist trotz allem ein wunderbares Schiff.»
Bolitho schaute ihn gedankenvoll an. Dem Steuermann konnte man nichts vormachen. Dennoch, genau wie Graves schien auch er sich zurückzuhalten. Vielleicht wartete er darauf, daß der neue Kapitän seine Stärke oder Schwäche verriet.
Er bemühte sich, kühl zu antworten.»Wir werden sehen, Mr. Buckle. «Als er aufblickte, bemerkte er, daß ihn der Steuermann mit plötzlicher Besorgnis beobachtete, und fügte kurz angebunden hinzu:»Sonst noch etwas?»
«Nein, Sir. «Buckle erhob sich.
«Gut, ich denke, daß die Einsatzbefehle in Kürze eintreffen. Ich erwarte, daß das Schiff seeklar ist.»
Der Steuermann nickte:»Aye, Sir, seien Sie ohne Sorge.»
Bolitho wurde etwas freundlicher. Möglicherweise ließ ihn nur seine eigene Unsicherheit so barsch seinem Steuermann gegenüber auftreten. Gewiß würde er Buckles führende Hand noch sehr brauchen, bis er das rechte Gefühl für sein Schiff bekäme.»Ich zweifle nicht, daß ich mit Ihrem Verhalten ebenso zufrieden sein werde, wie es Kapitän Ransome war.»
Buckle schluckte verlegen.»Jawohl, Sir. «Seine Augen schweiften durch die niedrige Kajüte.»Danke, Sir.»
Als sich die Tür hinter dem Steuermann schloß, strich Bolitho über seine Haare. Kaum waren ein paar Stunden vergangen, seit er unter dem Geschrill der Pfeifen an Bord gekommen war, und schon fühlte er zwiespältige Gedanken in sich erwachen.
Alles war so anders als in seinem früheren Leben. Damals konnte man sich mit seinen Kameraden besprechen, die Schwächen seines Kapitäns bloßlegen und ihn ordentlich verfluchen. Aber von heute an konnte nur ein einziges Wörtchen einen Mann verletzen oder ihn selbst um seine eigene Sicherheit bangen lassen. Buckle war achtzehn Jahre älter als Bolitho, doch beim ersten Anschein eines Unwillens hatte er sich beinahe geduckt.
Er schloß die Augen und versuchte, sein weiteres Verhalten festzulegen. Der Versuch, sich allzu beliebt zu machen, würde eine Narrheit bedeuten. Hielt er sich aber in Disziplinarfragen zu sehr an strikte Regeln, so war er ein Tyrann. Er mußte an Colquhouns Worte denken und lächelte bekümmert. Bis man die luftige Höhe von Colquhouns Dienstrang erreicht hatte, war man vor nichts sicher.