Über der Kajütsdecke hörte er einen Anruf und eine laute Antwort vom Wasser her, dann schrammte ein Bootskörper längsseits, und Füße stampften auf den Decksplanken. Es kam Bolitho fast unwirklich vor, daß auf dem Schiff, auf seinem Schiff, alles seinen gewohnten Gang ging, während er hier allein am Tisch saß. Er seufzte wieder und starrte den Stapel von Papieren und Büchern an. Es würde länger dauern, alles in Ordnung zu bringen, als er zuerst gedacht hatte. Wieder klopfte es an die Tür, und Graves trat gebückt ein, zog seinen Hut und klemmte ihn unter den Arm.
«Das Wachboot war soeben längsseits, Sir. «Er überreichte Bolitho einen schwerversiegelten Leinenumschlag.»Vom Marinestab, Sir.»
Bolitho legte ihn achtlos auf den Tisch. Zweifellos seine Einsatzbefehle, und er war sich bewußt, daß er nicht so handeln durfte, wie er es sich wünschte. Wie gerne hätte er den Umschlag ungeduldig aufgerissen, um zu erfahren, was von ihm verlangt wurde.
Er bemerkte, daß Graves sich in der Kajüte umschaute und seine Augen rasch über den abgelegten Rock, den Hut auf der Fensterbank und endlich über sein aufgeknöpftes Hemd gleiten ließ.
«Wollen Sie, daß ich hier warte, Sir?»
«Nein, ich werde Sie über den Inhalt der Papiere unterrichten, sobald ich genügend Zeit hatte sie durchzusehen.»
Graves nickte.»Ich erwarte den letzten Wasserleichter, der zu uns herauskommen soll. Ich habe den Küfer an Land geschickt, damit es schneller geht, aber.»
«Dann kümmern Sie sich bitte weiterhin darum«, lächelte Bolitho.
Er wartete, bis der Zweite Offizier gegangen war. Dann erbrach er die Siegel.
Bolitho war noch immer mit den sorgfältig niedergeschriebenen Befehlen beschäftigt, als er Stimmen im Durchgang vor der Tür hörte. Er erkannte Graves' Stimme, höflich und zurückhaltend, dann sprach jemand anderer, zuerst ruhig, dann ärgerlich losbrechend.»Nun, wie in drei Teufels Namen sollte ich das wissen? Sie hätten signalisieren können, Sie verdammter Narr!»
Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann klopfte es abermals an. Der Erste Leutnant trat ein. Er sah ganz anders aus, als Bolitho erwartet hatte. Colquhoun hatte gesagt, er sei zu jung, um das Kommando zu übernehmen. Doch dieser Mann war etwa zwei Jahre älter als Bolitho. Groß, breitschultrig, mit tief gebräuntem Gesicht stand er vor ihm. Sein dichtes, kastanienbraunes Haar wischte zwischen den Decksbalken über die Kajütsdecke, so daß er den niedrigen Raum ganz auszufüllen schien.
Bolitho blickte ruhig zu ihm auf.»Mr. Tyrell?»
Der Leutnant nickte kurz.»Sir!«Er holte tief Luft.»Ich muß mich für mein spätes An-Bord-Kommen entschuldigen. Ich war auf dem Flaggschiff.»
Bolitho senkte seine Augen. Tyrell sprach etwas gedehnt, ein sicheres Zeichen, daß der Mann in den amerikanischen Kolonien geboren und aufgewachsen war. Er wirkte wie ein nur halb gezähmtes Tier, und sein rasches Atmen verriet den Ärger, der immer noch in ihm brodelte.
«Unser Einsatzbefehl wurde soeben überbracht«, sagte Bolitho leichthin.
Tyrell schien nicht zu hören.»Ich war in persönlichen Angelegenheiten von Bord, Sir. Ich hatte keine Zeit, es anders einzurichten.»
«Ah, ja!»
Bolitho wartete und beobachtete den Mann, der unruhig zu den Heckfenstern hinstarrte. Er hatte eine sonderbare Art zu stehen.
Ein Arm hing an seiner Seite herunter, der andere war auf den Degengriff gestützt. Er sah ganz entspannt aus, doch aufmerksam wie jemand, der auf einen Angriff gefaßt war.
«Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich bei meinem Kommandoantritt den Ersten Offizier an Bord angetroffen hätte.»
«Ich habe Käptn Ransomes sterbliche Überreste an Land bringen lassen, damit sie mit seinem Besitz nach Hause befördert werden. Da Sie, Sir, den Befehl noch nicht übernommen hatten, fühlte ich mich frei zu handeln, wie ich es für richtig hielt. «Er schaute Bolitho ruhig an.»Ich war an Bord des Flaggschiffs, um mich, wenn möglich, auf ein anderes Schiff versetzen zu lassen. Es wurde abgelehnt.»
«Sie glaubten, daß Ihre Fähigkeiten unter anderem Kommando passender eingesetzt werden könnten, war das der Grund?»
Auf Tyrells Gesicht erschien ein zurückhaltendes Lächeln. Es veränderte ihn im Augenblick von einem ärgerlichen Mann in einen Menschen mit auffallendem Charme und der angeborenen Unbekümmertheit eines Kämpfers.
«Es tut mir wirklich leid, Sir. Nein, das war es nicht. Sie wissen zweifellos, daß ich das bin, was der verstorbene Käptn Ransome als einheimischen Kolonisten zu bezeichnen pflegte. «Bitter fügte er hinzu:»Obwohl es schien, daß wir, als ich vor einem Jahr an Bord kam, alle auf der gleichen Seite gegen die Rebellen standen.»
Bolitho horchte auf. Es war eigenartig, daß er sich niemals um die Gefühle von Leuten wie Tyrell gekümmert hatte, um die Einstellung guter amerikanischer Familien, die loyal zur britischen Krone sich als erste gegen die plötzliche Erhebung im eigenen Lande gestellt hatten. Als sich aber der Krieg ausweitete und die Briten hart um die Herrschaft, ja schließlich um ihre Existenz kämpfen mußten, waren die loyalen Amerikaner, wie Tyrell, plötzlich die Außenseiter geworden.
«Wo sind Sie zu Hause?«fragte er ruhig.
«Virginia, in der Grafschaft Gloucester. Mein Vater kam von England herüber, um einen Küstenschiffahrtshandel zu gründen. Als der Krieg begann, war ich Käptn auf einem seiner Schoner. Seitdem stehe ich im Dienst des Königs.»
«Und was ist mit Ihrer Familie?»
Tyrell blickte weg.»Weiß Gott, ich habe nichts mehr von ihnen gehört.»
«Wollten Sie sich auf ein Schiff versetzen lassen, das näher Ihrer Heimat stationiert ist? Um zu jenen Leuten zurückzukehren, die Sie jetzt als Ihre Landsleute betrachten?«Bolitho gab sich keine Mühe, die Schärfe in seinem Ton zu verbergen.
«Nein, Sir! Das ist's nicht. «Er hob einen Arm und ließ ihn wieder sinken. Seine Stimme wurde böse.»Ich bin Offizier des Königs, gleichgültig, was Ransome auch glauben mochte — der verfluchte Kerl.»
Bolitho stand auf.»Ich möchte nicht, daß Sie so von Ihrem letzten Kapitän reden!»
Eigensinnig antwortete Tyrelclass="underline" »Käptn Ransome ist in seinem Sarg im Laderaum eines Transportschiffes gut aufgehoben. Seine Witwe in ihrem großen Londoner Haus wird um ihn weinen und den Kriegsdienst anklagen, der ihn um sein Leben gebracht hat. «Er lachte kurz auf:»Fieber, hieß es offiziell. «Sein Blick irrte durch die Kabine.»Schauen Sie sich all das hier an, Sir! Von Weiberhänden eingerichtet. Wir sind kaum eine Meile gesegelt, ohne daß er irgendein verdammtes Weibsstück zur Gesellschaft an Bord hatte. «Er schien sich nicht mehr zurückhalten zu können.»Das ist die Art von Fieber, die ihn letzten Endes umgebracht hat. Ich bin verdammt froh, ihn los zu sein, wenn Sie mich fragen sollten.»
Bolitho setzte sich. Wieder war ihm der Boden unter den Füßen ins Wanken geraten. Frauen hier in dieser Kajüte! Er hatte gelegentlich von solchen Dingen auf größeren Schiffen gehört. Aber auf der kleinen Sparrow, die so wenig Sicherheit bot, wenn sie in ein Gefecht verwickelt wurde, war das undenkbar.
Tyrell beobachtete ihn zornig.»Ich mußte es Ihnen erzählen, Sir. Das ist so meine Art. Aber ich will Ihnen noch mehr sagen. Wenn ihn nicht Krankheit erledigt hätte, so hätte ich selbst ihn umgebracht.»
Bolitho blickte scharf auf.»Dann sind Sie ein Narr. Wenn Sie keine andere Stärke haben als die in Ihren bloßen Händen, dann werde ich es sein, der um Ihre Versetzung bittet, und damit keinen Fehler machen.»
Tyrell starrte auf einen Punkt hinter Bolithos Schulter.
«Würden Sie sich vielleicht so ruhig verhalten, Sir, wenn eine der Frauen Ihre Schwester gewesen wäre?»
Die Tür öffnete sich einen Zoll we it, und Stockdales zernarbtes Gesicht spähte herein. Auf einer Hand balancierte er ein kleines Silbertablett, auf dem zwei Gläser und eine Karaffe standen.