Aratow ließ die Hand mit dem Heft sinken, und sein Kopf fiel langsam auf die Brust herab.
»Lesen Sie doch!« rief Anna aus. »Warum lesen Sie nicht? Lesen Sie von Anfang an! Sie sind damit in fünf Minuten fertig, obwohl das Tagebuch ganze zwei Jahre umfaßt. In Kasan trug sie nichts mehr ein.«
Aratow erhob sich langsam von seinem Stuhl und stürzte vor Anna in die Knie.
Sie war vor Erstaunen und Schreck ganz starr.
»Geben Sie, geben Sie mir dieses Tagebuch«, begann Aratow mit ersterbender Stimme und hob beide Hände zu ihr empor. »Geben Sie es mir... auch die Photographie. Sie haben sicher eine andere. Das Tagebuch werde ich Ihnen zurückgeben. Ich brauche es, ich brauche es...«
In seinem Flehen, in seinen verzerrten Zügen lag eine solche Verzweiflung; man konnte diesen Ausdruck für Haß oder Schmerz halten. Er litt tatsächlich. Es war, als ob ein unerwartetes Unglück über ihn hereingebrochen wäre und er gereizt um Erbarmen und Hilfe flehte.
»Geben Sie es mir!« sagte er wieder.
»Waren Sie vielleicht in meine Schwester verliebt?« fragte Anna endlich.
Aratow kniete noch immer.
»Ich habe sie nur zweimal gesehen, glauben Sie es mir! Und wenn ich nicht meine Gründe hätte, die ich selbst weder richtig begreifen noch darlegen kann – wenn über mir nicht eine Gewalt wäre, die stärker ist als ich, so hätte ich Sie darum nicht gebeten. Ich wäre gar nicht hergekommen. Ich brauche... ich muß... Sie haben mir ja selbst gesagt, daß ich ihr Bild in seiner Reinheit wiederherstellen soll!«
»Und Sie waren in meine Schwester nicht verliebt?« fragte Anna wieder.
Aratow wußte im ersten Augenblick nicht, was zu antworten, und wandte sich, wie von Schmerz überwältigt, von ihr weg.
»Nun ja! Ich war verliebt! Ich bin es auch jetzt!« rief er mit derselben Verzweiflung aus.
Im Nebenzimmer ertönten Schritte.
»Stehen Sie auf, stehen Sie auf«, sagte Anna schnelclass="underline" »Mütterchen kommt!«
Aratow erhob sich von den Knien.
»Nehmen Sie meinetwegen das Tagebuch und die Photographie mit. Die arme, arme Katja!... Das Tagebuch müssen Sie mir aber wiedergeben«, fügte sie lebhaft hinzu. »Und wenn Sie etwas über sie schreiben, so müssen Sie es mir unbedingt schicken! Hören Sie?«
Das Erscheinen der Frau Milowidow entband Aratow von der Pflicht, etwas darauf zu sagen. Er hatte aber noch Zeit, dem jungen Mädchen zuzuflüstern: »Sie sind ein Engel! Ich danke Ihnen! Ich will Ihnen alles schicken, was ich schreibe.«
Frau Milowidow war so verschlafen, daß sie nichts merkte. So verließ Aratow mit der Photographie in der Brusttasche Kasan. Das Heftchen gab er Anna zurück, riß aber heimlich die Seite heraus, auf der sich die unterstrichenen Worte befanden.
Während der Rückfahrt nach Moskau war er wieder in der gleichen Erstarrung. Obwohl er sich auch in der Tiefe seiner Seele freute, daß er den Zweck seiner Reise erreicht hatte, schob er alle Gedanken an Klara bis zu seiner Heimkehr auf. Er dachte vielmehr an ihre Schwester Anna.
Das ist doch wirklich ein herrliches, sympathisches Wesen! sagte er sich. Dieses feine Verständnis für alles, dieses liebende Herz, dieser völlige Mangel an Selbstsucht! Wie kommt es nur, daß in unserer Provinz und in einem solchen Milieu so herrliche Mädchen erblühen? Sie ist kränklich und unschön und auch nicht mehr jung, doch welch eine wunderbare Lebensgefährtin wäre sie für einen anständigen gebildeten jungen Mann. In eine solche sollte man sich verlieben!
Solche Gedanken gingen Aratow durch den Kopf. Als er aber wieder in Moskau war, nahm alles doch eine ganz andere Wendung.
XIV
Platonida Iwanowna freute sich unsagbar über die Rückkehr ihres Neffen. Was hatte sie sich nicht schon alles gedacht! – »Mindestens nach Sibirien!« flüsterte sie, regungslos in ihrem Zimmerchen sitzend »Mindestens für ein Jahr!« Auch die Köchin machte ihr große Angst, wenn sie ihr die verbürgtesten Nachrichten über das Verschwinden bald des einen, bald des andern jungen Mannes aus der Nachbarschaft überbrachte. Die absolute Unschuld und politische Zuverlässigkeit Jaschas vermochten sie nicht zu beruhigen: Es kann ja alles vorkommen! Er beschäftigte sich mit Photographie – das genügt schon! Man verhaftet ihn!
Da kam aber Jascha heil und gesund nach Hause! Allerdings kam er ihr etwas abgemagert vor; das war auch kein Wunder: die ganze Zeit ohne ihre Aufsicht! Sie wagte aber nicht, ihn über seine Reise auszufragen. Beim Mittagessen erkundigte sie sich nur: »Ist Kasan eine hübsche Stadt?«
»Ja, eine hübsche Stadt!« antwortete Aratow.
»Leben dort lauter Tataren?«
»Nicht lauter Tataren.«
»Hast du dir keinen tatarischen Schlafrock mitgebracht?«
»Nein, ich habe keinen mitgebracht.«
Damit war das Gespräch zu Ende.
Kaum war aber Aratow allein in seinem Kabinett, als er sich sofort an allen Gliedern ergriffen fühlte, wie wenn er sich wieder in der Gewalt – ja, es war wohl eine Gewalt! – eines anderen Lebens, eines anderen Wesens befände. Er hatte zwar Anna in jenem plötzlichen Ausbruch von Wahnsinn gesagt, daß er in Klara verliebt sei; dieses Wort erschien ihm aber jetzt dumm und sinnlos. Nein, er ist nicht verliebt; wie sollte er auch in eine Tote verliebt sein, die ihm selbst bei Lebzeiten nicht gefiel, die er beinahe vergessen hatte? – Nein! Er ist aber in der Gewalt, in ihrer Gewalt. Er gehört nicht mehr sich selbst. Er ist gefangen. Er ist dermaßen gefangen, daß er nicht einmal versucht, sich auf irgendeine Weise frei zu machen – weder durch Spott über seine Dummheit noch durch die Einsicht oder wenigstens die Hoffnung, daß alles vergehen werde, daß alles von den Nerven komme, noch durch irgendwelche logische Gründe!
»Wenn ich ihn finde, so nehme ich ihn mir«, diese Worte Klaras, die er von Anna gehört hatte, kamen ihm in den Sinn. Nun hat sie ihn genommen. Sie ist aber tot? Ja, ihr Körper ist tot. Und die Seele? Ist die Seele nicht unsterblich? Braucht sie denn irdische Organe, um ihre Gewalt zu zeigen? – Die Erscheinungen des Magnetismus beweisen, daß eine lebende Menschenseele auf eine andere lebende Menschenseele einwirken kann. Warum soll diese Wirkung nicht auch nach dem Tode fortbestehen, wenn die Seele doch lebendig bleibt? Ja, doch zu welchem Zweck? Was kann dabei herauskommen? Haben wir aber überhaupt eine Ahnung davon, welchen Zweck alles hat, was um uns geschieht?
Diese Gedanken beschäftigten Aratow so sehr, daß er beim Abendtee an Platoscha ganz unvermittelt die Frage richtete, ob sie an die Unsterblichkeit der Seele glaube.
Platoscha verstand im ersten Augenblick nicht, was er wollte; dann bekreuzigte sie sich und antwortete: »Wie sollte denn die Seele nicht unsterblich sein?«
»Kann sie dann auch nach dem Tode wirken?« fragte wieder Aratow.
Die Alte antwortete, daß sie wohl für uns beten könne, das heißt nur nachdem sie in Erwartung des Jüngsten Gerichts alle Leidensstationen durchgemacht habe. Die ersten vierzig Tage umschwebe sie aber die Stätte, wo sie den Tod erlitten.
»Die ersten vierzig Tage?«
»Ja, und dann beginnen die Leidensstationen.«
Aratow wunderte sich über die Kenntnisse der Tante und ging wieder in sein Kabinett. Und wieder fühlte er die gleiche Gewalt über sich. Diese Gewalt äußerte sich darin, daß er fortwährend das Bild Klaras vor sich sah; er sah es mit solchen Einzelheiten, wie er sie bei ihren Lebzeiten wohl gar nicht bemerkt hatte; er sah... er sah ihre Finger, ihre Nägel, die Haarsträhnen an den Wangen unterhalb der Schläfen, ein kleines Muttermal unter dem linken Auge; er sah die Bewegungen ihrer Lippen, Nasenflügel, Augenbrauen; ihren Gang, und wie sie den Kopf ein wenig nach rechts geneigt hielt: Alles sah er! Er sah es ganz ohne Bewunderung, er mußte es aber unausgesetzt sehen und unausgesetzt daran denken.
Doch in der ersten Nacht nach seiner Rückkehr träumte er nicht von ihr. Er war sehr müde und schlief fest wie ein Toter. Als er aber erwachte, trat sie sofort wieder in sein Zimmer und blieb darin wie eine Hausfrau; als ob sie sich mit ihrem freiwilligen Tod das Recht erkauft hätte, ohne ihn zu fragen, bei ihm aus- und einzugehen.