Er nahm ihre Photographie vor, begann sie zu reproduzieren und zu vergrößern. Dann fiel es ihm ein, das Bild für das Stereoskop einzurichten. Das machte ihm nicht wenig Arbeit. Schließlich brachte er es doch fertig.
Er zuckte zusammen, als er durch die Linse ihre Figur sah, die den Anschein von Körperlichkeit angenommen hatte. Sie war aber grau, wie verstaubt, und die Augen – die Augen blickten zur Seite, wie wenn sie sich von ihm wegwandte. Er stand lange da, blickte lange in die Augen, als erwarte er, daß sie sich auf ihn richten. Er kniff sogar seine Augen zusammen. Die ihrigen aber blieben unbeweglich, und ihre Figur bekam etwas Puppenhaftes.
Er ließ das Bild liegen, warf sich in einen Sessel, holte das herausgerissene Tagebuchblatt mit der unterstrichenen Zeile hervor und dachte: Man sagt, daß Verliebte die Zeilen küssen, die von einer geliebten Hand herrühren, ich habe aber diesen Wunsch nicht – auch die Handschrift erscheint mir nicht schön. Doch in dieser Zeile ist mein Gerichtsurteil enthalten.
Da fiel ihm das Versprechen ein, das er Anna wegen des Artikels gegeben hatte. Er setzte sich hin und versuchte zu schreiben. Es wurde aber so verlogen, so hochtrabend, vor allem so verlogen, als ob er weder an die Worte, die er schrieb, noch an seine eigenen Gefühle glaubte. Auch Klara selbst kam ihm so unbekannt und unverständlich vor! Sie ließ sich gar nicht anfassen.
Nein! sagte er sich und legte die Feder beiseite. Entweder ist das Schreiben überhaupt nicht meine Sache, oder ich muß noch abwarten!
Er dachte wieder an seinen Besuch bei den Milowidows und an die Erzählung Annas, dieser guten, herrlichen Anna... Das von ihr gebrauchte Wort »unberührte« kam ihm plötzlich in den Sinn; es versengte und erleuchtete seine Seele.
»Ja«, sagte er laut. »Sie ist unberührt, auch ich bin unberührt. Das ist es, was ihr diese Gewalt über mich gibt!«
Er mußte wieder an die Unsterblichkeit der Seele, an das Leben jenseits des Grabes denken. – Heißt es denn nicht in der Bibeclass="underline" »Tod, wo ist dein Stachel?« Und bei Schiller: »Auch die Toten sollen leben?« Wohl bei Mickiewicz hatte er gelesen: »Ich werde bis ans Ende der Zeiten lieben – und auch nach dem Ende der Zeiten!« Und ein englischer Dichter hat gesagt: »Die Liebe ist stärker als der Tod!«
Die Bibelstelle machte auf Aratow den größten Eindruck. Er wollte die Stelle nachschlagen. Und weil er keine eigene Bibel besaß, bat er Tante Platoscha um die ihrige. Sie war sehr erstaunt, holte aber ein uraltes Buch in verbogenem, mit Wachstropfen bedecktem Ledereinband mit Messingschließen hervor und händigte es Aratow aus.
Er ging damit zurück in sein Zimmer, konnte lange die Stelle, die er suchte, nicht finden – fand dafür aber eine andere: »Niemand hat größere Liebe, denn die, daß er sein Leben lasset für seine Freunde.« (Johannis, XV, 13.)
Er sagte sich: Es sollte anders heißen: Niemand hat größere Gewalt...
Und wenn sie ihr Leben gar nicht für mich gelassen hat? Wenn sie nur darum Hand an sich gelegt hat, weil das Leben ihr eine Last war? Wenn sie schließlich gar nicht einer Liebeserklärung wegen zum Stelldichein gekommen war?
In diesem Augenblick erschien vor ihm Klara, so wie er sie vor der Trennung auf dem Boulevard gesehen hatte. Er erinnerte sich ihres wehmütigen Ausdrucks, ihrer Tränen und ihrer Worte: »Ach, Sie haben ja nichts verstanden!...«
Nein, er durfte nicht mehr zweifeln, wofür und für wen sie ihr Leben gelassen hatte.
So verging der ganze Tag bis zum Abend.
XV
Aratow ging früh zu Bett; er wollte eigentlich noch nicht schlafen, hoffte aber im Bett Ruhe zu finden. Die Spannung der Nerven ermüdete ihn viel mehr als die physische Abspannung der Reise. Wie groß auch seine Müdigkeit war, einschlafen konnte er doch nicht. Er versuchte zu lesen, doch die Zeilen verschwammen vor seinen Augen. Er blies die Kerze aus, und in seinem Zimmer wurde es dunkel. Er lag aber noch immer schlaflos mit geschlossenen Augen da.
Plötzlich kam es ihm vor, als ob ihm jemand etwas ins Ohr flüstere... Es ist das Herzklopfen, das Rauschen des Blutes, dachte er sich. Das Geflüster ging aber in zusammenhängende Rede über. Jemand sprach russisch, hastig, klagend, doch unverständlich. Er konnte kein einziges Wort verstehen. Es war aber Klaras Stimme!
Aratow öffnete die Augen, setzte sich auf und stützte sich in die Ellenbogen. Die Stimme klang etwas leiser, fuhr aber in ihrer klagenden, hastigen, noch immer unverständlichen Rede fort.
Es war zweifellos Klaras Stimme!
Unsichtbare Finger liefen über die Tasten des Pianinos. Dann erklang wieder die Stimme. Zuerst gedehnte Töne, wie Seufzer – immer die gleichen. Und dann einzelne verständliche Worte: »Rosen... Rosen... Rosen...«
»Rosen«, flüsterte Aratow nach. »Ach ja! Das sind ja die Rosen, die ich im Traume auf dem Kopfe jenes Wesens gesehen habe.«
»Rosen...« klang es wieder.
»Bist du es?« fragte Aratow im gleichen Flüsterton.
Die Stimme war plötzlich verstummt.
Aratow wartete, wartete und ließ den Kopf auf das Kissen sinken.
Eine Gehörhalluzination, sagte er sich. Wenn sie aber wirklich hier in der Nähe ist? Wenn ich sie erblicke, werde ich da erschrecken? Oder mich freuen? Warum sollte ich erschrecken? Und worüber sollte ich mich freuen? Höchstens darüber, daß es ein Beweis für die Existenz einer anderen Welt, der Unsterblichkeit der Seele wäre. Und wenn ich auch etwas sehe, so kann es übrigens auch nur eine Gesichtshalluzination sein.
Er zündete aber dennoch die Kerze an und ließ den Blick schnell, nicht ohne eine gewisse Angst, über das ganze Zimmer schweifen, entdeckte aber darin nichts Außergewöhnliches. Er stand auf, ging zum Stereoskop und sah wieder die gleiche graue Puppe mit den auf die Seite gerichteten Augen. Die Angst machte einem Gefühl von Ärger Platz. Es war, wie wenn er sich in seinen Erwartungen getäuscht hätte; auch die Erwartungen selbst kamen ihm jetzt lächerlich vor.
»Das ist ja schließlich dumm!« murmelte er. Er legte sich wieder hin und blies die Kerze aus. Und wieder wurde es im Zimmer stockfinster.
Aratow beschloß diesmal einzuschlafen. Aber eine neue Empfindung bemächtigte sich seiner. Es schien ihm, als ob jemand in der Mitte des Zimmers nicht weit von ihm stehe und kaum wahrnehmbar atme. Er wandte sich rasch um und schlug die Augen auf. Was konnte er aber in der undurchdringlichen Finsternis sehen? Er begann nach einem Zündholz auf dem Nachttisch zu suchen, und plötzlich war es ihm, als ziehe ein weicher, lautloser Wirbelwind durch das ganze Zimmer, über ihn, durch ihn hindurch, und das Wort »Ich!« klang deutlich in seinen Ohren.
»Ich!... Ich!...«
Es vergingen einige Augenblicke, ehe er die Kerze anzünden konnte.
Im Zimmer war wieder nichts zu sehen, und er hörte auch nichts mehr außer dem schnellen Pochen seines eigenen Herzens. Er trank ein Glas Wasser und blieb regungslos, den Kopf in eine Hand gestützt, liegen. Er wartete.
Er dachte: Ich will warten. Entweder ist alles Unsinn oder sie ist hier. Sie wird doch nicht mit mir wie die Katze mit der Maus spielen! Er wartete, er wartete lange, so lange, daß die Hand, in die er den Kopf stützte, einschlief. Doch keine der früheren Empfindungen wollte sich wiederholen. Zweimal fielen ihm die Augen zu. Er schlug sie jedesmal wieder auf; es schien ihm wenigstens, daß er sie aufschlug. Allmählich richteten sie sich auf die Tür und blieben an ihr haften. Die Kerze war heruntergebrannt, und das Zimmer verdunkelte sich wieder. Die Tür hob sich als länglicher weißer Fleck im Halbdunkel ab. Dieser Fleck regte sich, wurde kleiner, verschwand, und an seiner Statt erschien an der Schwelle eine weibliche Gestalt. Aratow sah gespannt hin: Es war Klara! Diesmal blickte sie ihm gerade ins Gesicht und bewegte sich auf ihn zu. Sie hatte auf dem Kopf einen Kranz roter Rosen.