Er zuckte zusammen und setzte sich auf.
Vor ihm stand seine Tante in weißer Nachtjacke und einer Nachthaube mit großer roter Schleife.
»Platoscha!« brachte er mit Mühe hervor. »Sind Sie es?«
»Ja, ich«, antwortete Piatonida Iwanowna. »Ich bin es, Jascha.« – »Warum sind Sie hergekommen?«
»Du hast mich ja geweckt. Anfangs hast du lange gestöhnt, dann plötzlich aufgeschrien: ›Zur Hilfe!‹ «
»Habe ich geschrien?«
»Ja, und mit so heiserer Stimme: ›Zur Hilfe!‹ Ich dachte mir: Mein Gott! Ist er am Ende krank? Also kam ich her. Fühlst du dich wohl?«
»Ja, vollkommen.«
»Dann hast du wohl einen bösen Traum gehabt. Willst du, daß ich ein wenig mit Weihrauch räuchere?«
Aratow blickte die Tante noch einmal aufmerksam an und lachte plötzlich laut auf. Die gute Alte in Haube und Nachtjacke, mit dem erschrockenen langgezogenen Gesicht war tatsächlich recht komisch anzuschauen. Alles Geheimnisvolle, was ihn soeben umschwebt und bedrückt hatte, der ganze Zauber war mit einem Male verflogen.
»Nein, liebste Platoscha, bitte, nicht!« sagte er. »Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie, ohne es zu wollen, geweckt habe. Schlafen Sie wohl, auch ich werde einschlafen.«
Platonida Iwanowna blieb noch eine Weile stehen, zeigte auf die Kerze, brummte: »Warum löschst du sie nicht aus? Wie leicht kann ein Unglück geschehen!« und konnte sich nicht enthalten, ihn beim Weggehen zu bekreuzigen.
Aratow versank sofort in Schlaf und schlief bis zum Morgen durch. Er stand in recht guter Stimmung auf, obwohl ihm irgend etwas leid tat. Er fühlte sich leicht und frei.
Das sind romantische Einfälle! sagte er sich mit einem Lächeln.
Er warf weder einen Blick ins Stereoskop noch auf das von ihm herausgerissene Tagebuchblatt. Doch gleich nach dem Frühstück begab er sich zu Kupfer.
Er fühlte dunkel, was ihn zu ihm hinzog.
XVI
Aratow traf seinen sanguinischen Freund zu Hause an. Er sprach mit ihm über dies und jenes, machte ihm Vorwürfe, daß er ihn und die Tante ganz vergessen habe, hörte von ihm neue Lobhymnen auf das goldene Herz der Fürstin, von der Kupfer soeben aus Jaroslawl ein mit Fischschuppen besticktes Käppchen zum Geschenk bekommen hatte.
Plötzlich setzte er sich vor Kupfer hin, blickte ihm gerade in die Augen und erklärte, daß er in Kasan gewesen sei.
»Du warst in Kasan? Wozu?«
»Ich wollte einiges über diese... Klara Militsch erfahren.«
»Über die, die sich vergiftet hat?«
»Ja.«
Kupfer schüttelte den Kopf. »So einer bist du gar! Und stellst dich so still! Tausend Werst fährst du hin, tausend Werst zurück – und wozu? Warum? Wenn doch wenigstens irgendein Frauenzimmer im Spiele wäre! Dann würde ich alles verstehen. Alles! Jeden Wahnsinn!« Kupfer zerzauste sich das Haar. »Aber nur um Material zu sammeln, wie ihr gelehrten Männer es nennt. Ich danke! Dazu gibt es statistische Komitees! Nun, hast du die Alte und die Schwester kennengelernt? Ein prächtiges Mädchen, nicht wahr?«
»Ja, ein prächtiges Mädchen«, bestätigte Aratow. »Sie hat mir viel Interessantes erzählt.«
»Hat sie dir auch gesagt, wie Klara sich vergiftet hat?«
»Was heißt... wie?«
»Auf welche Weise?«
»Nein. Sie war ja noch zu sehr erschüttert. Ich wagte nicht, sie zu viel zu fragen. War es denn irgendwie außergewöhnlich?«
»Gewiß. Stell dir nur vor. Sie mußte an jenem Tag spielen, und sie spielte auch. Sie nahm das Fläschchen mit dem Gift mit ins Theater, trank es vor dem ersten Akt aus und spielte den ganzen Akt zu Ende. Mit dem Gift im Magen! Diese Willensstärke! Dieser Charakter! Man sagt, daß sie noch keine Rolle mit solchem Gefühl, mit solchem Feuer gespielt habe! Das Publikum ahnte nichts, klatschte und rief Bravo. Kaum war aber der Vorhang gefallen, als auch sie auf die Bühne fiel. Sie bekam Krämpfe, Krämpfe; und nach einer Stunde gab sie den Geist auf! Habe ich es dir denn noch nicht erzählt? Es stand auch in den Zeitungen!«
Aratow fühlte plötzlich seine Hände erkalten und etwas in seiner Brust zittern.
»Nein, du hast es mir noch nicht erzählt«, sagte er schließlich. »Weißt du nicht was für ein Stück es war?«
Kupfer versuchte sich zu besinnen. »Man hat mir das Stück wohl genannt – ein betrogenes Mädchen kommt darin vor. Es wird wohl irgendein Drama gewesen sein. Klara war für dramatische Rollen wie geboren. Selbst ihr Äußeres... Ja, wo willst du denn hin?« unterbrach sich Kupfer, als er Aratow nach der Mütze greifen sah.
»Ich fühle mich nicht ganz wohl«, antwortete Aratow. »Auf Wiedersehen. Ich komme ein anderes Mal.«
Kupfer hielt ihn auf und blickte ihm ins Gesicht. »Was bist du doch für ein nervöser Mensch! Schau dich nur an... Bist weiß wie Kreide.«
»Mir ist nicht ganz wohl«, wiederholte Aratow. Er befreite sich aus Kupfers Armen und ging nach Hause. Erst jetzt wurde es ihm klar, daß er zu Kupfer mit einer einzigen Absicht gegangen war, nämlich mit ihm über Klara zu sprechen.
»Über die wahnsinnige, unselige Klara...«
Als er aber nach Hause kam, beruhigte er sich wieder einigermaßen.
Die näheren Umstände des Selbstmordes machten zunächst einen erschütternden Eindruck auf ihn. Später aber kam ihm dieses Spiel »mit dem Gift im Magen«, wie Kupfer sich ausgedrückt hatte, als eine häßliche Phrase, als ein Bravourstück vor, und er bemühte sich, nicht mehr daran zu denken, um nicht ein Gefühl von Ekel in sich aufkommen zu lassen.
Als er beim Mittagessen der Tante Platoscha gegenübersaß, erinnerte er sich plötzlich an die mitternächtliche Erscheinung mit der kurzen Nachtjacke und der großen Schleife an der Haube (wozu hat sie an der Haube diese Schleife?), an ihre ganze komische Gestalt, die wie der Signalpfiff des Regisseurs in einem phantastischen Ballett alle Visionen zu Staub zerfallen machte. Er veranlaßte sogar Platoscha, ihm noch einmal zu erzählen, wie sie seinen Aufschrei gehört habe, wie sie aufgesprungen sei und im ersten Augenblick vor Schreck weder ihre noch seine Tür habe finden können und so weiter. Abends spielte er mit ihr wieder Karten und zog sich in sein Zimmer zurück, etwas traurig, doch ziemlich ruhig.
Aratow dachte nicht an die bevorstehende Nacht und fürchtete sie nicht: Er war überzeugt, daß er sie gut verbringen würde. Der Gedanke an Klara erwachte in ihm nur ab und zu; es fiel ihm aber jedesmal ein, wie »theatralisch« sie sich umgebracht hatte, und er wandte sich von ihr wieder ab. Dieses Häßliche verscheuchte jede andere Erinnerung an sie. Er warf einen Blick ins Stereoskop, und es kam ihm vor, daß sie sich nur darum von ihm wegwandte, weil sie sich schämte. An der Wand über dem Stereoskop hing das Bildnis seiner Mutter. Aratow nahm es vom Nagel, betrachtete es lange, küßte es und steckte es behutsam in die Schublade. Warum tat er es? Weil dieses Bild nicht in der Nähe jenes anderen weiblichen Wesens bleiben durfte oder aus irgendeinem anderen Grund? Er gab sich keine Rechenschaft darüber. Das Bild der Mutter brachte ihm aber seinen Vater in Erinnerung, den Vater, den er einst in diesem selben Zimmer, auf diesem selben Bett hatte sterben sehen.
Was denkst du dir darüber, Vater? wandte er sich in Gedanken an ihn. Du hast doch das alles verstanden, hast auch an die Schillersche Geisterwelt geglaubt. Gib mir nun einen Rat!
»Der Vater würde mir raten, diesen ganzen Unsinn bleibenzulassen!« sagte Aratow laut und griff nach einem Buch. Er konnte aber doch nicht lesen; er fühlte eine seltsame Schwere in seinem ganzen Körper und ging früher als sonst zu Bett, fest davon überzeugt, daß er sofort einschlafen werde.