Kupfer zeichnete sich darin besonders aus: Er legte die Hände nach besonderem System zu einem Art Fäßchen zusammen und erzeugte ungewöhnlich laute, hallende Töne. Die Fürstin gab ihm einen großen, zerzausten Blumenstrauß, damit er ihn der Sängerin überreiche. Die schien aber Kupfers gebeugte Gestalt und seine mit dem Blumenstrauß ausgestreckte Hand gar nicht zu sehen; sie wandte sich um und ging wieder allein, ohne den Pianisten, der noch schneller als das erste Mal aufgesprungen war, um sie hinauszubegleiten. Als ihm das nicht gelang, schüttelte er seine Locken so, wie Liszt die seinigen wohl niemals schüttelte!
Solange Klara sang, beobachtete Aratow aufmerksam ihr Gesicht. Es schien ihm, daß ihre Blicke durch die gesenkten Wimpern auf ihn allein gerichtet waren; den größten Eindruck auf ihn aber machte die Unbeweglichkeit dieses Gesichts, der Stirn und Brauen. Bei ihrem letzten leidenschaftlichen Aufschrei bemerkte er, wie zwischen den halbgeöffneten Lippen eine weiße, enge Zahnreihe warm aufleuchtete. Kupfer ging auf ihn zu.
»Nun, wie findest du sie, mein Lieber?« fragte er, vor Vergnügen strahlend.
»Die Stimme ist gut«, antwortete Aratow, »sie versteht aber nicht zu singen und hat noch keine richtige Schule.« (Gott allein weiß, warum er das sagte und was er von »Schule« verstand.)
Kupfer war erstaunt. »Keine Schule!« wiederholte er gedehnt: »Nun, das kann sie ja noch lernen. Aber die Seele! Wart, du wirst ja gleich hören, wie sie den Brief Tatjanas rezitiert.«
Er lief fort und ließ Aratow stehen. Der aber dachte: Eine Seele! Bei diesem unbeweglichen Gesicht! Er fand, daß sie wie eine Magnetisierte, wie eine Somnambule stand und sich bewegte. Und dabei sah sie ihn immer an... Ja, sie sah ihn an, daran war nicht zu zweifeln.
Der »Nachmittag« nahm indessen seinen Fortgang. Der dicke Herr mit der Brille trat wieder auf; trotz seines ernsten Aussehens, bildete er sich ein, Komiker zu sein, und las eine Szene von Gogol. Diesmal erntete er aber nicht die geringste Anerkennung. Der Flötist huschte noch einmal vorbei; der Pianist ließ wieder das Klavier erdröhnen; ein zwölfjähriger Junge, mit pomadisiertem und gebranntem Haar, doch Spuren von Tränen auf den Wangen, geigte irgendwelche Variationen. Es fiel auf, daß man in den Pausen aus dem Künstlerzimmer die Töne eines Waldhorns hörte, während dieses Instrument im Laufe der Veranstaltung kein einziges Mal auf dem Podium erschien. Wie es sich später herausstellte, hatte der Liebhaber, der Waldhorn spielen sollte, im letzten Augenblick vor dem öffentlichen Auftreten Angst bekommen.
Endlich erschien wieder Klara Militsch. Sie hielt ein Bändchen Puschkin in der Hand, in das sie aber während des Vortrags kein einziges Mal hineinblickte. Sie war offenbar etwas befangen; das kleine Buch zitterte leise in ihren Fingern. Aratow merkte auch einen Ausdruck von Trauer, der jetzt auf ihren strengen Zügen lag. Den ersten Vers: »Ich schreibe Ihnen... und was weiter?« sprach sie außerordentlich einfach, fast naiv, beide Arme mit aufrichtig naiver, hilfloser Gebärde vor sich ausstreckend. Dann schlug sie ein etwas zu schnelles Tempo ein. Aber bei den Versen: »Ein and'rer? Nein! Mein Herz soll niemand haben...« beherrschte sie sich schon wieder und als sie zu der Stelle kam: »Mein ganzes Leben war Verheißung, daß ich dich treffe...«, erklang ihre bis dahin etwas dumpfe Stimme begeistert und kühn, während sie ihre Augen ebenso kühn und gerade auf Aratow richtete. Mit dieser Begeisterung fuhr sie fort, und nur ganz am Schluß klang ihre Stimme wieder gedämpft und drückte, ebenso wie ihr Gesicht, die frühere Trauer aus. Die letzten vier Zeilen leierte sie schnell herunter, das Bändchen Puschkin entglitt ihrer Hand, und sie verließ rasch das Podium.
Das Publikum raste. Das Klatschen und Hervorrufen wollte kein Ende nehmen. Ein Seminarist kleinrussischer Abstammung brüllte so laut »Mylytsch! Mylytsch!«, daß ihn ein neben ihm sitzender Herr höflich und teilnahmsvoll ersuchte, »den künftigen Protodiakon in sich zu schonen«. Aratow aber erhob sich sofort von seinem Platz und eilte dem Ausgang zu. Kupfer holte ihn ein.
»Was fällt dir ein? Wo willst du hin?« schrie er ihn an. »Willst du nicht, daß ich dich der Klara vorstelle?«
»Nein, danke«, erwiderte Aratow eilig und lief nach Hause.
V
Seltsame, ihm selbst noch unklare Empfindungen brachten seine ganze Seele in Aufruhr. Klaras Rezitation hatte ihm eigentlich ebenso wenig gefallen wie ihr Gesang; obwohl er sich keine Rechenschaft darüber geben konnte, warum. Die Rezitation hatte ihn irgendwie beunruhigt; sie erschien ihm allzu scharf und unharmonisch. Sie störte irgendein Gleichgewicht in ihm und kam ihm wie eine Vergewaltigung vor. Und dann diese unverwandten, hartnäckigen, beinahe zudringlichen Blicke – wozu diese Blicke? Was hatten sie zu bedeuten? Die angeborene Bescheidenheit ließ in Aratow auch nicht den leisesten Gedanken aufkommen, daß er diesem seltsamen jungen Mädchen gefallen und ein Gefühl eingeflößt haben könne, das der Liebe, der Leidenschaft gliche. Er stellte sich jenes noch unbekannte weibliche Wesen, jenes Mädchen, dem er dereinst seine Seele hingeben, das ihn lieben und seine Braut, seine Gattin werden würde, ganz anders vor... Er gab sich aber nur sehr selten solchen Träumen hin: Er war an Leib und Seele keusch, und das keusche Bild, das in seiner Phantasie manchmal auftauchte, war von einem andern Bild – vom Bilde seiner Mutter gezeugt, an die er sich kaum erinnern konnte, deren Bildnis er aber wie ein Heiligtum bewahrte. Es war ein Aquarellbild, das eine Freundin der Verstorbenen ohne besondere Kunst gemalt hatte, das ihr aber, wie alle behaupteten, erstaunlich ähnlich war. Das gleiche zarte Profil, die gleichen gütigen, hellen Augen, die gleichen seidenweichen Haare, das gleiche Lächeln und den gleichen heiteren Ausdruck mußte auch jene Frau oder jenes Mädchen haben, an die er noch nicht einmal zu denken wagte.
Aber diese Schwarze, mit der dunklen Hautfarbe und den struppigen Haaren, mit dem Anflug von Schnurrbart ist sicher verdreht und nicht gut... Eine »Zigeunerin« – Aratow konnte keine verächtlichere Bezeichnung erfinden –, was soll er mit ihr?
Aratow hatte aber nicht die Kraft, die schwarze Zigeunerin, deren Gesang und Deklamation und selbst deren Äußeres ihm gar nicht gefielen, aus seinem Hirn zu verdrängen. Er war ganz durcheinander und machte sich selbst Vorwürfe. Kurz vorher hatte er den Walter-Scott-Roman »Die Wasser von St. Ronan« gelesen (die vollständige Ausgabe der Werke Walter Scotts befand sich in der Bibliothek seines Vaters, der in diesem englischen Dichter einen ernsten, beinahe wissenschaftlichen Schriftsteller achtete). Die Heldin dieses Romans hieß Klara Mowbray. Ein russischer Dichter der vierziger Jahre, Krassow, hatte ihr ein Gedicht gewidmet, das mit den Worten endete:
Unselige Klara! Wahnsinnige Klara!
Unselige Klara Mowbray!
Aratow kannte auch dieses Gedicht. Und nun kamen ihm diese Worte immer wieder in den Sinn: »Unselige Klara, wahnsinnige Klara!...« – Darum war er auch so erstaunt, als Kupfer ihm sagte, das junge Mädchen heiße mit dem Vornamen Klara.
Selbst Platoscha fiel an ihm etwas auf: nicht etwa eine Veränderung in Jakows Stimmung – es war ja in ihm gar keine Veränderung eingetreten, aber etwas Seltsames in seinen Blicken und Reden. Sie erkundigte sich vorsichtig nach dem literarischen Nachmittag, den er besucht hatte, flüsterte, seufzte, sah ihn aufmerksam von vorne, von der Seite und von rückwärts an, schlug sich plötzlich mit den Händen auf die Schenkel und rief aus: »Jascha, jetzt weiß ich, was es ist!«