So vergingen unbemerkt – wenn auch mit »Rückfällen«, die zum Beispiel darin bestanden, daß er einmal beinahe einen Besuch bei der Fürstin abstattete – zwei und drei Monate, und Aratow war wieder der alte. Aber tief unter der Oberfläche des Lebens regte sich etwas Dunkles und Schweres, das ihn auf allen Wegen begleitete. So schwimmt ein großer, eben am Angelhaken hängengebliebener, aber noch nicht aus dem Wasser gezogener Fisch am tiefen Grunde des Flusses unter dem Kahn, in dem der Fischer mit der festen Angelschnur in der Hand sitzt.
Eines Tages aber stieß Aratow beim Lesen einer nicht mehr neuen Nummer der »Moskauer Nachrichten« auf folgende Notiz: »Mit tiefstem Bedauern«, schrieb irgendein Mitarbeiter aus Kasan, »tragen wir in unserer Theaterchronik die Nachricht vom plötzlichen Hinscheiden unserer begabten Schauspielerin Klara Militsch ein, die während ihres kurzen Engagements zum Liebling unseres recht wählerischen Publikums geworden ist. Unsere Trauer ist um so größer, als Fräulein Militsch ihrem jungen, so vielversprechenden Leben mit Gift ein freiwilliges Ende gemacht hat. Der Fall ist um so schrecklicher, als die Künstlerin das Gift im Theater selbst eingenommen hat. Kaum hatte man sie in ihre Wohnung gebracht, als sie zum allgemeinen Bedauern den Geist aufgab. Es wird behauptet, daß es eine unerwiderte Liebe war, die sie in den Tod getrieben hat.«
Aratow legte die Zeitungsnummer ganz langsam wieder auf den Tisch. Äußerlich schien er ruhig, aber etwas hatte ihm plötzlich einen Stoß vor die Brust und vor den Kopf versetzt und sich dann langsam durch alle seine Glieder verbreitet. Er stand auf, blieb eine Weile auf einem Fleck stehen, setzte sich wieder hin und las die Zeitungsnotiz noch einmal. Dann stand er wieder auf, legte sich aufs Bett, verschränkte die Hände im Nacken und starrte, wie benebelt, lange auf die Wand. Die Wand floß allmählich auseinander und verschwand – und er sah den Boulevard unter dem grauen Himmel und sie im schwarzen Umhang – dann sah er sie auf dem Podium und sich selbst an ihrer Seite. Das, was ihn im ersten Augenblick so stark vor die Brust gestoßen hatte, stieg jetzt allmählich zur Kehle hinauf. Er wollte husten, er wollte jemand rufen, aber seine Stimme versagte, und aus seinen Augen flossen zu seinem eigenen Erstaunen unaufhaltsam die Tränen –; Was hatte diese Tränen hervorgerufen? Mitleid? Reue? Oder hatten seine Nerven der plötzlichen Erschütterung einfach nicht standhalten können? Sie hatte ihm doch nichts bedeutet. Oder doch?
Vielleicht ist das Ganze gar nicht wahr? ging es ihm plötzlich durch den Sinn. Ich muß mich erkundigen. Doch bei wem? Bei der Fürstin? Nein, bei Kupfer –; bei Kupfer? Es heißt ja, daß er gar nicht in Moskau ist? Es ist ganz gleich! Zuerst muß ich zu ihm!
Mit diesen Gedanken beschäftigt, zog sich Aratow schnell an, nahm eine Droschke und fuhr zu Kupfer.
IX
Er hoffte gar nicht, ihn zu treffen, traf ihn aber doch. Kupfer war tatsächlich einige Zeit verreist gewesen, aber schon seit acht Tagen zurückgekehrt und hatte sogar die Absicht gehabt, Aratow aufzusuchen. Er empfing ihn wie immer freundlich und begann ihm etwas zu erklären. Aratow unterbrach ihn aber ungeduldig mit der Frage: »Hast du es gelesen? Ist es wahr?«
»Was ist wahr?« fragte Kupfer verdutzt.
»Das von Klara Militsch?«
Kupfers Gesicht drückte Bedauern aus. »Ja, mein Lieber, es ist wahr: Sie hat sich vergiftet! Wie schrecklich!«
»Hast du es auch in der Zeitung gelesen?« fragte Aratow nach einer Pause. »Oder warst du vielleicht selbst in Kasan?«
»Ich war in Kasan. Die Fürstin und ich hatten sie hingebracht. Sie ging dort zur Bühne und hatte großen Erfolg. Ich war aber noch vor der Katastrophe abgereist –; Ich war in Jaroslawl.«
»In Jaroslawl?«
»Ja. Ich hatte die Fürstin dorthin begleitet. Sie hat sich jetzt in Jaroslawl niedergelassen.«
»Du hast aber doch zuverlässige Nachrichten?«
»Die zuverlässigsten, aus erster Hand! Ich habe ja in Kasan ihre Familie kennengelernt. Aber mir scheint, mein Lieber, daß dich diese Nachricht sehr aufgeregt hat? Und doch glaube ich, Klara hätte dir damals gar nicht gefallen –; Mit Unrecht! Sie war ein herrliches Mädchen, aber eigensinnig! Ein Tollkopf! Ihr Tod hat mir großen Schmerz bereitet!«
Aratow sagte kein Wort und ließ sich in einen Stuhl sinken. Etwas später bat er Kupfer, ihm zu erzählen.
»Was denn?« fragte Kupfer.
»Ja, alles –;« antwortete Aratow unsicher. »Zum Beispiel von ihrer Familie –; und vom übrigen. Alles, was du weißt!«
»Interessiert es dich denn? Gerne!«
Und Kupfer, dem man den Schmerz um Klara gar nicht ansehen konnte, begann zu erzählen.
Aratow erfuhr von ihm, daß Klara Militsch mit ihrem richtigen Namen Katerina Milowidow hieß; daß ihr verstorbener Vater etatsmäßiger Zeichenlehrer zu Kasan gewesen war, schlechte Porträts und Bilder gemalt und im Rufe eines Trunkenbolds und Haustyrannen gestanden hatte; dabei sei er ein gebildeter Mensch gewesen! (Kupfer lächelte selbstzufrieden über das von ihm eben erfundene Wortspiel.) Daß dieser Vater eine Witwe und eine Tochter hinterlassen hatte: Die erstere sei vom Kaufmannsstand, ein furchtbar dummes Frauenzimmer, wie einer Komödie Ostrowskijs entnommen, die Tochter aber, viel älter als Klara und ihr nicht im geringsten ähnlich, ein sehr kluges, doch etwas gar zu ekstatisches, krankes, wunderbares und außerordentlich gebildetes Mädchen. Daß die beiden – die Witwe und die Tochter – in recht anständigen Verhältnissen in einem hübschen Häuschen, das aus dem Erlös für jene schlechten Bilder gekauft worden ist, leben; daß Klara oder Katja (nenne sie, wie du willst) schon als Kind erstaunliche Begabung gezeigt, sich aber durch einen ungestümen, launischen Charakter ausgezeichnet und sich ewig mit dem Vater herumgeschlagen habe; da sie eine angeborene Begabung fürs Theater gehabt habe, sei sie in ihrem sechzehnten Lebensjahr mit einer Schauspielerin aus dem Elternhause durchgebrannt.
»Mit einem Schauspieler?« unterbrach ihn Aratow.
»Nein, nicht mit einem Schauspieler, sondern mit einer Schauspielerin, an der sie sehr hing –; Diese Schauspielerin wurde von einem reichen, sehr alten Herrn protegiert, der sie nur aus dem Grunde nicht heiratete, weil er schon anderweitig verheiratet war. Ich glaube übrigens, daß auch die Schauspielerin einen Mann hatte.«
Kupfer teilte Aratow ferner mit, daß Klara schon vor ihrem Auftreten in Moskau auf verschiedenen Provinzbühnen gespielt und gesungen hatte; daß sie, nachdem sie ihre Freundin, die Schauspielerin, verloren (ihr Mäzen war entweder gestorben oder hatte sich mit seiner Frau versöhnt – Kupfer wußte es nicht mehr genau), mit der Fürstin, dieser Frau mit dem goldenen Herzen, bekannt geworden war, »die du, mein Freund Jakow Andrejitsch, nicht nach Gebühr zu schätzen wußtest«; daß sie schließlich ein ihr angebotenes Engagement nach Kasan angenommen, obwohl sie vorher behauptet hatte, Moskau niemals verlassen zu wollen.