Ich versuchte es.
Es funktionierte nicht.
Am nächsten Morgen war nichts von ihm zu sehen, und der Tag war in jeder Hinsicht besser. Das Knie des Zweijährigen, der den Tritt abbekommen hatte, war wie ein Fußball angeschwollen, aber er trat gut auf, und Lucky Lindsays Schnittwunde war genauso oberflächlich, wie Etty gehofft hatte. Der ältliche Fahrradfahrer hatte am Vorabend meine Entschuldigung und zehn Pfund für seine blauen Flecken angenommen und mir den Eindruck vermittelt, daß wir ihn für eine ähnliche Aufbesserung seines Einkommens jederzeit wieder vom Rad werden durften. Archangel absolvierte auf der Sidehill-Bahn einen halbschnellen Zwölfhundert-Meter-Galopp, und bei mir hatte eine Nacht Schlaf schon einige Falten ausgebügelt. Aber Alessandro Rivera kehrte zurück.
Er rollte in dem chauffeurgesteuerten Mercedes die Einfahrt herauf, gerade als Etty und ich die letzten drei Boxen der Abendstallzeit hinter uns hatten, und sein Timing war so genau, daß ich mich fragte, ob er auf der Bury Road gewartet und uns beobachtet hatte.
Mit einer ruckartigen Kopfbewegung wies ich auf das Büro, und er folgte mir hinein. Ich stellte das Heizgerät an und nahm Platz wie am Abend zuvor; er tat dasselbe.
Aus seiner Innentasche holte er den Lehrlingsvertrag hervor und schob ihn mir über den Schreibtisch zu. Ich nahm ihn, faltete ihn auf und blätterte um.
Es gab keine Veränderungen. Es war der Vertrag in genau der Form, wie er ihn mitgenommen hatte. Es gab jedoch vier Zusätze: Die Unterschriften von Alessandro Rivera und Enzo Rivera mit jeweils einem Zeugen standen genau an den für sie vorgesehenen Stellen.
Ich betrachtete die kühnen, schweren Schwünge der beiden Riveras und die nervösen Züge der Zeugen. Sie hatten das Dokument unterschrieben, ohne eine einzige der leeren Stellen auszufüllen, ohne über die Dauer der Lehrzeit oder den zu zahlenden Wochenlohn auch nur zu diskutieren.
Er beobachtete mich. Ich sah ihm in seine kalten schwarzen Augen.
«Sie und Ihr Vater haben das Dokument unterzeichnet«, sagte ich langsam,»weil Sie nicht die geringste Absicht haben, sich an die Vereinbarungen zu halten.«
Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert.»Denken Sie, was Sie wollen«, sagte er.
Genau das würde ich auch tun. Und was ich dachte, war, daß der Sohn nicht so kriminell war wie sein Vater. Der Sohn hatte die gesetzlichen Verpflichtungen des Lehrvertrages ernst genommen. Sein Vater nicht.
4
Das kleine Privatzimmer des im Norden Londons gelegenen Krankenhauses, in das man meinen Vater nach dem Unfall gebracht hatte, schien beinahe vollkommen ausgefüllt zu sein mit den Gestellen und Stricken und Streckapparaten und Gewichten, die sein extra hohes Bett verzierten. Abgesehen von all dem gab es nur ein Fenster mit hohem Sims und schlaffen Blumenvorhängen sowie die Aussicht auf die Hälfte der Rückseite eines anderen Gebäudes und ein Fitzelchen Himmel, ein brusthohes Waschbecken mit hebelbewehrten Wasserkränen, die so gemacht waren, daß man sie auch mit den Ellbogen bedienen konnte, ferner einen Nachttisch, auf dem in einem Glas Wasser seine unteren Zähne ruhten, und eine Art Sessel für Besucher.
Vor den margarinefarbenen Wänden leuchteten keine Blumen, und keine Karten mit Genesungswünschen prangten auf dem Nachttisch. Er machte sich nichts aus Blumen und hätte jeden Strauß gleich auf eine andere Station verbannt, und ich bezweifelte, daß irgend jemand den Fehler begehen würde, ihm mit einer Hochglanz- oder Witzkarte gute Besserung wünschen zu wollen, etwas, das er als geradezu entsetzlich vulgär betrachtet hätte.
Das Zimmer selbst war dürftig im Vergleich zu dem, was er sich ausgesucht hätte oder sich hätte leisten können, aber das Krankenhaus selbst hatte in jenen kritischen ersten Tagen den Eindruck effizienter Routiniertheit gemacht. Hier hatten sie es schließlich, wie einer der Ärzte mir beiläufig erklärte, ständig mit zertrümmerten Körpern aus Autounfällen auf der A I zu tun. Sie waren daran gewöhnt. Dafür ausgerüstet. Der Anteil an Unfallopfern überstieg den der normalen Patienten.
Der Arzt hielt es für einen Fehler, auf Privatbehandlung für meinen Vater zu bestehen, und er erklärte mir, daß die Sekunden auf der allgemeinen Station, wo immer viel los war, nicht ganz so zäh dahintickten, aber ich hatte ihm versichert, daß er meinen Vater nicht kannte. Er hatte mit den Schultern gezuckt und nachgegeben, aber hinzugefügt, daß die Privatzimmer nichts Besonderes seien. Waren sie auch nicht. Sie waren nicht zum Verweilen, sondern eher zum Davonlaufen, sofern man das konnte.
Als ich meinen Vater an diesem Abend besuchte, schlief er. Die verheerenden Auswirkungen der Schmerzen der vergangenen Woche hatten die Linien um seine Augen tiefer und dunkler werden lassen und seine Haut grau gefärbt, und er sah auf eine Art und Weise schutzlos aus, wie er es in wachem Zustand niemals tat. Die herrische Starre seines Mundes war gelöst, und mit geschlossenen Augen schien er nicht mehr neunzehn Zwanzigstel dessen, was geschah, zu mißbilligen. Eine Locke grauweißen Haares fiel weich über seine Stirn und gab ihm ein freundliches, sanftes Aussehen. Das war hoffnungslos irreführend.
Er war kein netter Vater gewesen. Ich hatte den größten Teil meiner Kindheit damit verbracht, ihn zu fürchten, den größten Teil meiner Jugend damit, ihn zu verachten, und erst seit einigen, sehr wenigen Jahren war es mir möglich, ihn zu verstehen. Die Härte, mit der er mich behandelt hatte, war nicht Zurückweisung oder Ablehnung gewesen, sondern Folge eines Mangels an Phantasie und der Unfähigkeit zu lieben. Er hatte nicht an Prügel geglaubt, aber er hatte verschwenderisch andere Strafen ausgeteilt — Liebesentzug und Einsamkeit —, ohne zu begreifen, daß für mich eine Qual war, was für ihn eine Nichtigkeit gewesen wäre. Einen Jungen drei oder vier Tage hintereinander in seinem Zimmer einzusperren konnte vielleicht nicht als echte Grausamkeit bezeichnet werden, mir jedoch hatte es Qualen der Demütigung und Scham bereitet. Und es war mir obwohl ich es versuchte, bis ich das unterdrückteste Kind in
Newmarket war — nicht möglich gewesen, alles zu vermeiden, was mein Vater als Fehler interpretieren konnte.
Dann hatte er mich ins Internat von Eton geschickt, was sich auf seine Weise als genauso herzlos erwies, und an meinem sechzehnten Geburtstag lief ich davon.
Ich wußte, daß er mir nie verziehen hatte. Eine Tante hinterbrachte mir seinen zornigen Kommentar: daß er mich mit Pferden zum Reiten ausgestattet und mich Gehorsam gelehrt habe. Was könne ein Vater mehr für seinen Sohn tun?
Er hatte nicht den Versuch gemacht, mich zurückzuholen, und in all den Jahren meines geschäftlichen Erfolgs hatten wir nicht ein einziges Mal miteinander gesprochen. Nach einer Trennung von vierzehn Jahren war ich eines Tages zu den Ascot-Rennen gegangen, da ich wußte, daß er dort sein würde, und endlich Frieden schließen wollte.
Als ich sagte:»Mr. Griffon…«:, drehte er sich in einer Gruppe von Menschen zu mir um, hob die Augenbrauen und sah mich fragend an. Seine Augen waren kühl und ausdruckslos. Er hatte mich nicht erkannt.
Mit mehr Belustigung als Verlegenheit hatte ich erwidert:»Ich bin dein Sohn… Neil.«
Außer Überraschung zeigte er kein wie auch immer geartetes Gefühl, und mit der stillschweigenden Voraussetzung, daß keiner von uns beiden etwas Derartiges wünschte, machte er den Vorschlag, daß ich, wann immer ich nach Newmarket kam, bei ihm hereinschauen solle.
Das hatte ich seither drei- oder viermal jährlich getan, manchmal auf einen Drink, manchmal zum Mittagessen, aber niemals, um zu bleiben. Mit dreißig war es mir möglich, ihn von einem viel vernünftigeren Standpunkt zu betrachten, als ich das mit fünfzehn getan hatte. Sein Verhalten mir gegenüber war immer noch größtenteils unfreundlich, kritisch und strafend, aber da ich nicht mehr von seiner Anerkennung abhängig war und er mich nicht mehr in mein Zimmer sperren konnte, wenn ich anderer Meinung war als er, fand ich eine Art perverses Vergnügen an seiner Gesellschaft.