Beinahe jedes Pferd, das sich ein Bein brach, mußte zerstört, das heißt eingeschläfert werden, da es nur in außergewöhnlichen Fällen möglich war, es zu heilen. Pferde konnte man nicht ins Bett stecken. Sie legten sich kaum jemals hin. Um das Gewicht eines Pferdes von einem Bein herunterzunehmen, mußte man es in Schlingen aufhängen. Wenn man es aber so viele Wochen in Schlingen festhielt, wie es dauerte, bis ein tragender Knochen zusammenwuchs, brachte das immer Schwäche und Darmprobleme mit sich. Rennpferde, von Natur aus sehr empfindliche Geschöpfe, konnten an Inaktivität sterben, und wenn sie überlebten, waren sie nachher nie mehr so gut wie vorher; nur im Falle wertvoller Deckhengste und Zuchtstuten wurde für gewöhnlich überhaupt ein Versuch gemacht, sie am Leben zu erhalten.
Wenn Enzo Rivera einem Pferd das Bein brach, ruinierte er es. Wenn er genug Beine brach, würden die Besitzer ihre überlebenden Tiere abtransportieren, und der Stall selbst würde zerstört sein.
Alessandro hatte gesagt, sein Vater habe ihm die Dose als ein Versprechen dessen geschickt, was er tun könne.
Wenn er Pferdebeine brechen konnte, konnte er den Stall tatsächlich zerstören.
Aber ganz so einfach war es nicht, einem Pferd das Bein zu brechen.
Tatsache oder Bluff.
Ich betastete das kleine, verstümmelte Pferd. Ich wußte nicht und konnte auch nicht entscheiden, für welche von beiden Möglichkeiten es stand. Aber ich beschloß zumindest, ein wenig von meinem eigenen Bluff in Tatsachen umzusetzen.
Ich verfaßte einen vollen Bericht von der Entführung, ausgeschmückt mit jedem Detail, an das ich mich erinnern konnte. Dann packte ich das kleine Holzpferd wieder in seine Dose und schrieb eine kurze Erklärung über seine mögliche Bedeutung nieder. Daraufhin steckte ich alles in einen kräftigen braunen Umschlag, schrieb die altehrwürdigen Worte:»Zu öffnen im Falle meines Todes«, steckte ihn dann zusammen mit einem Begleitschreiben in einen größeren Umschlag und schickte das Ganze von der Hauptpost in Newmarket an meinen Londoner Rechtsanwalt.
«Du hast was getan?«rief mein Vater.
«Einen neuen Lehrling angenommen.«
Er warf einen zornigen Blick auf das ganze Gerümpel, das ihn an sein Bett fesselte. Nur die Tatsache, daß er angebunden war, hinderte ihn daran, buchstäblich an die Decke zu gehen.
«Es ist nicht deine Sache, neue Lehrlinge anzunehmen. Du sollst das nicht tun. Hörst du?«
Ich wiederholte mein Lügenmärchen von Enzo, der gut für Alessandros Privileg bezahle. Die Botschaft brach den Widerstand meines Vaters und nahm ihm merklich den Wind aus den Segeln. Eine nachdenkliche Miene gewann die Oberhand und schließlich ein widerwilliges Nicken.
Er weiß es, dachte ich. Er weiß, daß der Stall bald Liquiditätsprobleme bekommen wird.
Ich fragte mich, ob es ihm gut genug ging, um die Sache zu besprechen, oder ob er, selbst wenn es ihm gut genug ging, überhaupt fähig sei, mit mir darüber zu reden. Wir hatten in unserem Leben noch nie etwas diskutiert: Er hatte mir gesagt, was ich tun sollte, und ich hatte es entweder getan oder gelassen. Das Gottesgnadentum der Könige war nichts gegen seine Art, mit der er auch die meisten Besitzer behandelte. Sie empfanden alle — in verschiedenen Abstufungen — Ehrfurcht vor ihm, und einige hatten regelrecht Angst; aber sie ließen ihre Pferde in seinem Stall, weil er Jahr um Jahr die Pokale, die zählten, nach Hause holte.
Er fragte, wie die Pferde arbeiteten. Ich gab ihm einen ausführlichen Bericht, und er hörte mit einem skeptischen Zug um Mund und Augenbrauen zu, um mir zu zeigen, daß er den Wert einiger oder aller meiner Einschätzungen bezweifelte. Ich erzählte ihm ohne Verbitterung alles, was für ihn von Interesse war, und am Ende sagte er:»Sag Etty, daß ich eine Liste von der Arbeit will, die jedes Pferd tut, und von seinen Fortschritten.«
«Mach’ ich«, stimmte ich bereitwillig zu. Er forschte in meinem Gesicht nach Anzeichen von Ärger und schien eine Spur enttäuscht zu sein, als er nichts dergleichen fand. Feindseligkeit eines alternden, gebrechlichen Vaters seinem erwachsenen, gesunden Sohn gegenüber ist eine ziemlich verbreitete Erscheinung in der Natur, und es machte mich nicht nervös, daß er mir diese Gefühle zeigte. Trotzdem sollte er nicht die Befriedigung bekommen, mich besiegt zu glauben; und er hatte keine Ahnung, wie geübt ich darin war, hochmütige Sieger nach unverdienten Triumphen wieder auf den Teppich zu holen.
Ich sagte nur:»Soll ich die Liste mit den Nennungen mitnehmen, damit Etty weiß, auf welche Rennen sie die Pferde vorbereiten soll?«
Seine Augen wurden schmal, und sein Mund war plötzlich verkniffen, während er mir erklärte, daß es ihm unmöglich gewesen sei, die Nennungen zu machen: Röntgenaufnahmen und medizinische Behandlungen hätten seine Zeit zu sehr in Anspruch genommen, und man ließe ihn nie lange genug allein, um sich zu konzentrieren.
«Sollen Etty und ich es zusammen einmal versuchen?«
«Ganz bestimmt nicht. Ich werde die Nennungen machen… Wenn ich mehr Zeit habe.«
«In Ordnung«, sagte ich friedfertig.»Wie geht’s dem Bein? Du scheinst ja langsam wieder zu dir zu kommen.«
«Es ist nicht mehr so schlimm«, gab er zu. Er glättete die ohnehin faltenlose Decke, die über seinem Bauch lag, Ausdruck seiner unwandelbaren Angewohnheit, seine Umgebung genauso ordentlich, genauso würdig, genauso steif wie seine Seele zu gestalten.
Ich fragte, ob ich ihm irgend etwas mitbringen könne.»Ein Buch?«schlug ich vor.»Obst? Oder Champagner?«Wie die meisten Rennpferdtrainer betrachtete er Champagner als eine Art bessere Coca-Cola, vorzugsweise am Morgen zu trinken, wenn überhaupt, und er wußte, daß Champagner als Muntermacher für Kranke kaum seinesgleichen hatte.
Er legte den Kopf schief und dachte nach.»Es sind noch ein paar halbe Flaschen im Keller von Rowley Lodge.«
«Ich bringe welche mit«, sagte ich.
Er nickte. Er würde niemals — was ich auch tat — danke sagen. Ich lächelte innerlich. Der Tag, an dem mein Vater mir dankte, würde der Tag sein, an dem seine Persönlichkeit auseinanderbrach.
Über das Krankenhaustelefon erkundete ich, ob ich in Hampstead willkommen war, und nachdem ich eine herzerwärmende Bestätigung erhalten hatte, lenkte ich den Jensen weitere acht Meilen nach Süden.
Gillie war mit dem Streichen des Schlafzimmers fertig, aber die Möbel stapelten sich immer noch im Flur.
«Warten auf den Teppich«, erklärte sie.»Wie auf Godot.«
«Godot ist nie gekommen«, bemerkte ich.
«Das«, pflichtete sie mir mit übertriebener Geduld bei,»ist es, was ich meine.«
«Dann schick Signalraketen hoch.«
«Seit Dienstag geht ein Knallkörper nach dem anderen unter irgendwelchen Kehrseiten hoch.«
«Mach dir nichts draus«, sagte ich besänftigend.»Laß uns zum Abendessen ausgehen.«
«Ich habe meinen Grapefruittag«, wandte sie ein.
«Na, ich nicht. Ganz bestimmt nicht. Ich hatte keinen Lunch, und ich habe Hunger.«
«Ich habe ein wirklich furchtbar tolles Grapefruitrezept. Die Hälften werden mit reichlich Süßstoff und einer Spur Kirsch übergossen und heiß gegessen.«
«Nein«, sagte ich kategorisch,»Ich gehe ins Empress.«
Das warf das Grapefruitprogramm über den Haufen. Das Empress liebte sie über alles.
«Hm, na ja… Es wäre doch sehr langweilig für dich, allein zu essen«, sagte sie.»Eine Sekunde; ich zieh’ mir mein schäbiges Schwarzes an.«
Ihr schäbiges Schwarzes war ein langärmliges Kleid von Yves Saint Laurent, das ihre Kurven geschickt kaschierte. Es war absolut nichts Schäbiges daran, ganz im Gegenteil, und ihre Beschreibung war ein gewaltiges Understatement, als könnte sie, wenn sie seine Klasse herunterspielte, ihre Schuldgefühle wegen des Preises vergessen. Sie hatte in jüngster Zeit einige vage sozialistische Ansichten entwickelt, und sie begann sich ein ganz klein wenig Gedanken darüber zu machen, daß man mit dem, was sie für ein einziges Kleid bezahlte, eine zwölfköpfige Familie die ganze Fastenzeit hindurch hätte ernähren können.