Als wir eineinviertel Stunden später zurückkehrten, hielt George Traffics Zügel, die anderen Pfleger waren abgestiegen,
und Alessandro lag als bewußtloses Häufchen Elend am Boden.
7
«Traffic hat ihn einfach abgeworfen, Sir«, sagte einer der Pfleger.»Einfach so, Sir. Und er hat sich den Kopf auf dem Geländer aufgeschlagen, Sir.«
«Gerade eben erst, Sir«, fügte der andere ängstlich hinzu.
Sie waren beide etwa sechzehn, beide Lehrlinge, beide ausgesprochen klein, und keiner von ihnen besonders kühn. Ich hielt es für unwahrscheinlich, daß sie mit Absicht irgend etwas getan haben konnten, um Traffic noch mehr aufzuregen und den hochmütigen Alessandro buchstäblich zu Fall zu bringen, aber man konnte nie wissen. Was ich allerdings mit Bestimmtheit wußte, war, daß Alessandros Gesundheit von größter Bedeutung für meine eigene war.
«George«, sagte ich,»führ Traffic in seine Box, und Etty…«- sie stand direkt hinter mir, schnalzte mit der Zunge, schaute aber nicht besonders bekümmert drein —»gibt es irgend etwas, das wir als Bahre benutzen könnten?«
«In der Sattelkammer ist eine«, sagte sie, nickte und wies Ginge an, die Bahre zu holen.
Die Bahre erwies sich als ein kleines Etwas aus schmuddeligem, grünem Leinen, das zwischen zwei ungleichmäßig geformten Stangen baumelte, die ihrerseits so aussahen, als hätten sie früher vielleicht einmal als Ruder gedient. Als Ginge damit zurückkehrte, war mein Herzschlag mittlerweile vom Everest heruntergekommen: Alessandro lebte und lag nicht allzu tief im Koma, und Enzos Pistolenkugeln würden mich daher nicht augenblicklich aus Rache ins Jenseits befördern.
Soweit ich erkennen konnte, hatte er sich keine Knochen gebrochen, aber ich sorgte mit übertriebener Vorsicht dafür, daß er ganz sachte auf die Bahre gelegt wurde. Etty gefiel das nicht; wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten George und Ginge ihn an Armen und Beinen gefaßt und wie einen Sack Getreide auf die Bahre geworfen. Ich dagegen war maßvoller und wies die beiden an, ihn vorsichtig hochzuheben, ins Haus zu tragen und im Besitzerraum aufs Sofa zu legen. Ich selbst machte erst einen kleinen Umweg ins Büro und bat Margaret, nach einem Arzt zu telefonieren.
Als ich in den Besitzerraum kam, bewegte Alessandro sich bereits. George und Ginge blickten auf ihn herab, der eine schon älter und resigniert, der andere jung und kampflustig, und keiner von beiden hatte auch nur das geringste Mitleid mit dem Patienten.
«In Ordnung«, sagte ich zu ihnen.»Das wär’s. Der Arzt kommt, um nach ihm zu sehen.«
Beide sahen so aus, als hätten sie noch eine Menge zu sagen, verbissen es sich aber und schlenderten aus dem Zimmer, um schließlich ihre Meinung auf dem Hof kundzutun.
Alessandro öffnete die Augen, und zum ersten Mal sah er ein wenig verletzlich aus. Er wußte nicht, was geschehen war, wußte nicht, wo er sich befand oder wie er dort hingekommen war. Die Verwirrung zeichnete neue Linien in sein Gesicht; machte es jünger und weicher. Dann wurde sein Blick klar und heftete sich auf mein Gesicht, und mit einem Schlag kehrten eine Menge Erinnerungen zurück. Abgang Taube, Auftritt Habicht. Es war, als beobachtete man einen Spastiker, der aus gelöstem, entspanntem Frieden zu Krämpfen und Zuckungen erwachte.
«Was ist passiert?«fragte er.
«Traffic hat Sie abgeworfen.«
«Oh«, sagte er schwächer, als ihm lieb war. Er schloß die Augen und stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen ein einziges, tief empfundenes Wort aus:»Scheiße.«
Von der Tür her war ein plötzlicher Tumult zu hören, und der
Chauffeur stürzte ins Zimmer, während Margaret versuchte, ihn am Arm festzuhalten. Er stieß sie mühelos beiseite und schickte sich an, dasselbe mit mir zu machen.
«Was ist passiert?«rief er drohend.»Was machen Sie mit dem Sohn?«Seine Stimme ließ mich erschaudern. Wenn er nicht selbst eins der Gummigesichter war, hörte er sich zumindest genauso an.
Alessandro begann von seinem Sofa aus, mit müder Stimme auf ihn einzureden. Er sprach italienisch, was ich dank einer ehemaligen Freundin mehr oder weniger verstand.
«Hör auf, Carlo. Geh zurück in den Wagen. Warte auf mich. Das Pferd hat mich abgeworfen. Neil Griffon wird mir nichts tun. Geh zurück in den Wagen und warte auf mich.«
Carlo bewegte seinen Kopf hin und her wie ein verdatterter Ochse, gab jedoch schließlich nach und tat, was man ihm gesagt hatte. Drei stille Hochrufe auf die Disziplin im Hause Rivera.
«Ein Arzt ist auf dem Weg, um nach Ihnen zu sehen«, sagte ich.
«Ich will keinen Arzt.«
«Sie werden so lange auf diesem Sofa liegenbleiben, bis ich sicher sein kann, daß Ihnen nichts fehlt.«
Er grinste höhnisch.»Angst vor meinem Vater?«
«Denken Sie, was Sie wollen«, sagte ich; was er offensichtlich auch tat.
Der Arzt erwies sich schließlich als derselbe, der früher meinen Mumps, meine Masern und meine Windpocken diagnostiziert hatte. Jetzt war er alt, mit überaktiven Tränendrüsen und stockender Sprache, und seinem gegenwärtigen Patienten gefiel er überhaupt nicht. Alessandro behandelte ihn rüde und bekam dafür Höflichkeit zurück, wo er einen kräftigen Tritt verdient hätte.
«Dem Jungen ist nicht viel passiert«, lautete das Urteil.»Aber er sollte heute besser im Bett bleiben und sich morgen noch ausruhen. Das wird Sie wieder auf die Beine bringen, junger Mann, hm?«
Der junge Mann starrte ihn undankbar an und antwortete nicht. Der alte Arzt wandte sich mir zu, bedachte mich mit einem nachsichtigen Lächeln und sagte, ich solle es ihn wissen lassen, wenn der Junge irgendwelche Nachwirkungen hätte wie Schwindel oder Kopfschmerzen.
«Alter Narr«, sagte der Junge hörbar, als ich den Arzt zur Tür brachte; und als ich zurückkam, war er bereits aufgestanden.
«Kann ich jetzt gehen?«fragte er sarkastisch.
«So weit und für so lange, wie Sie wollen«, erwiderte ich.
Seine Augen wurden schmal.»Sie werden mich nicht los.«
«Schade«, sagte ich.
Nach einem kurzen, zornigen Schweigen trabte er ein wenig unsicher an mir vorbei aus dem Zimmer. Ich ging ins Büro und sah zusammen mit Margaret aus dem Fenster, während der Chauffeur geschäftig hin und her eilte und ihn auf dem Rücksitz des Mercedes bequem unterbrachte; und ohne Zeit zu verlieren oder einen Blick zurückzuwerfen, fuhr er» den Sohn «davon.
«Ist alles in Ordnung mit ihm?«erkundigte sich Margaret.
«Durchgeschüttelt, nicht erschüttert«, sagte ich schnippisch, und sie lachte. Aber sie folgte dem Wagen mit ihrem Blick, bis er nach links in die Bury Road einbog.
Am folgenden Tag blieb er zu Hause, kam aber am Donnerstag früh pünktlich zum ersten Lot wieder. Als der Wagen heranrollte, stand ich auf dem höchsten Teil des Hofs und unterhielt mich mit Etty. Die Freundlichkeit in ihrem Gesichtsausdruck verwandelte sich in die verstockte Abneigung, die sie immer zeigte, wenn Alessandro in der Nähe war, und als sie ihn athletisch vom Rücksitz springen und entschlossen auf uns zukommen sah, fiel ihr etwas ein, das dringend in einer der Boxen weiter unten erledigt werden mußte.
Alessandro quittierte ihre Flucht mit einem verachtungsvollen Zucken seiner Lippen, das sich zu meinem Verdruß zu einem höhnischen Grinsen ausweitete, bevor er mich begrüßte. Er hielt mir eine flache Blechdose hin, die genauso aussah wie die, die er mir einige Tage zuvor gegeben hatte.
«Botschaft für Sie«, sagte er. Seine ganze Großspurigkeit war wieder da, und zwar fortissimo, und ich hätte auch ohne die Dose gewußt, daß er noch einmal mit seinem Vater gesprochen hatte. Seine Bosheit hatte sich neu aufgeladen wie eine Batterie, die man ans Stromnetz angeschlossen hatte.