Etty wurde, da der Beginn der Saison näher rückte, immer angespannter, und die ängstlichen Furchen auf ihrer Stirn glätteten sich nur noch selten. Ich überließ viel mehr ihrem Urteil, als mein Vater das tat, und daher fühlte sie sich unsicher. Sie sehnte sich sichtlich nach seiner Rückkehr.
Die Pferde arbeiteten jedoch trotz allem gut. Abgesehen von einer zweijährigen Stute, die eine Nasennebenhöhlenerkrankung bekam, hatten wir keine weiteren Mißgeschicke mehr zu verzeichnen, und soweit ich das als Zuschauer beurteilen konnte, waren die Leistungen der anderen fünfundvierzig Ställe, die die Heide von Newmarket benutzten, keinesfalls besser als die von Rowley Lodge.
Alessandro kam jeden Tag zum Training und ritt schweigend, wenn auch mit trotzig besenstielsteifem Rückgrat, nach Ettys Anweisungen. Er wies nicht mehr darauf hin, daß er keine Befehle von einer Frau entgegennehme, und ich nahm an, daß selbst er sehen konnte, daß es ohne Etty weniger Gewinner geben würde. Sie selbst hatte fast vollkommen aufgehört, sich über ihn zu beklagen, und sah ihn jetzt mit objektiveren Augen; denn es bestand kein Zweifel, daß er nach einem Monat konzentrierten Trainings besser ritt als die anderen Lehrlinge.
Er wurde außerdem sichtbar dünner und sah nicht mehr gesund aus. Und obwohl er eher klein war, waren die einundvierzig Kilo, auf die er seinen Körper zusammenschrumpfen lassen wollte, bei einer Größe von einsdreiundsechzig immer noch extrem.
Alessandros Verbohrtheit war ein lästiger Faktor. Wenn ich geglaubt hatte, ich müsse es ihm so schwermachen, wie ich es gerade noch wagte, damit er seine Phantasterei aufgeben und verschwinden würde, so hatte ich mich verrechnet. Das hier war keine Phantasterei. Es erwies sich nur allzu deutlich als ein verzehrender Ehrgeiz; ein Ehrgeiz, der so stark war, daß er sich dafür fast tothungerte, Befehle von einer Frau entgegennahm und wahre Wunder der Selbstdisziplin vollführte — unglaublich, wenn man bedachte, daß dies wahrscheinlich das erste Mal in seinem Leben war, daß ihm eine solche Disziplin abverlangt wurde.
Entgegen Ettys Willen setzte ich ihn eines Morgens auf Archangel.
«Er ist noch nicht soweit«, protestierte sie, als ich ihr sagte, was ich vorhatte.
«Es gibt keinen anderen Reiter auf dem Hof, der besser mit ihm umgehen könnte«, sagte ich.
«Aber er hat nicht die Erfahrung dafür.«
«O doch, die hat er. Archangel ist nur wertvoller, nicht schwieriger zu reiten als die anderen.«
Alessandro quittierte die Neuigkeit nicht mit Freude, sondern mit einem» Na endlich«-Blick, eher höhnisch als zufriedengestellt. Wir gingen hinunter zur Waterhall-Bahn, weitab jeder öffentlichen Aufmerksamkeit. Dort lief Archangel schnelle zwölfhundert Meter und sah, als er stehenblieb, so aus, als wäre er gerade erst aus seiner Box gekommen.
«Er hatte ihn im Gleichgewicht«, sagte ich zu Etty.»Die ganze Zeit.«
«Ja, stimmt«, sagte sie widerwillig.»Nur schade, daß er so ein abscheulicher kleiner Scheißer ist.«
Alessandro kam mit einer» Ich hab’s Ihnen doch gesagt«: — Miene zurück, die ich ihm sogleich vom Gesicht wischte, indem ich ihm sagte, ich würde ihn morgen auf Lancat setzen.
«Warum?«wollte er zornig wissen.»Ich habe Archangel sehr gut geritten.«
«Ziemlich gut«, stimmte ich ihm zu.»Und Sie können ihn wieder reiten, in ein oder zwei Tagen. Aber ich möchte, daß Sie Lancat bei einem Probegalopp am Mittwoch reiten, also können Sie ihn morgen auch schon nehmen und sich an ihn gewöhnen. Nach dem Probegalopp möchte ich, daß Sie mir Ihre Meinung über das Pferd sagen und darüber, wie es gegangen ist. Und ich möchte keinen von Ihren kurzen, spöttischen Kommentaren, sondern eine durchdachte Einschätzung. Für einen Jockey ist die Analyse dessen, was sein Pferd bei einem Rennen geleistet hat, fast genauso wichtig wie das Reiten selbst. Ein Trainer muß sich weitgehend auf das verlassen können, was sein Jockey ihm sagt. Also können Sie mir über Lancat berichten, und ich werde zuhören.«
Er warf mir einen langen, konzentrierten Blick zu, aber ausnahmsweise einmal ohne die gewohnte Hochnäsigkeit.
«Gut«, sagte er.»Mache ich.«
Wir hielten den Probegalopp am Mittwochnachmittag auf der Probebahn jenseits der Limekilns ab, ein gutes Stück entfernt von Newmarket. Sehr zu Ettys Mißfallen hatte ich den Probegalopp so angesetzt, daß er genau im selben Augenblick anfing wie die Fernsehübertragung des Champion-Hürdenrennens in Cheltenham. Die Rechnung ging auf. Wir brachten das nahezu Unmögliche fertig, einen vollen Probegalopp ohne einen einzigen Beobachter oder Turfspion in Sichtweite.
Abgesehen von den beiden Pferden, die Etty und ich ritten, hatten wir nur vier Tiere mitgenommen: Pease Pudding, Lancat, Archangel und einen der vielversprechendsten Gewinner des letzten Jahres, einen vierjährigen Hengst namens Subito, dessen beste Distanz eine Meile war. Tommy Hoylake war aus Berkshire hergekommen, um Pease Pudding zu reiten, Andy setzten wir auf Archangel und einen wortkargen Pfleger namens Faddy auf den Fuchs Subito.
«Quetscht sie mir nicht zu sehr aus«, sagte ich, bevor die Reiter starteten.»Wenn ihr merkt, daß ihnen die Luft ausgeht, verlangsamt ihr einfach ein wenig.«
Viermaliges Nicken. Vier ungeduldig tänzelnde Hengste mit glänzendem Fell.
Etty und ich galoppierten zu einer Stelle, die knapp hundert Meter vom Ende der Trainingsbahn entfernt war, und als wir an einem guten Aussichtspunkt stehengeblieben waren, schwenkte sie ein großes weißes Taschentuch über ihrem Kopf. Die Pferde starteten auf uns zu, bewegten sich schnell und immer schneller, die Reiter über ihre Widerriste gebeugt, die Köpfe gesenkt, die Zügel ganz kurz, die Füße gegen die Flanken der Pferde gepreßt.
Sie kamen in immer noch vollem Tempo an uns vorbei und blieben ein kleines Stück weiter weg stehen. Archangel und Pease Pudding hatten den ganzen Galopp Seite an Seite bestritten und waren zusammen ins Ziel gegangen. Lancat hatte nach dem Start zehn Längen verloren, acht wieder gutgemacht, dann wieder zwei verloren, aber sich immer noch sicher und leicht bewegt. Subito war am Anfang vor Lancat gewesen, dann, als jener schneller wurde, hinter ihn zurückgefallen und lief neben ihm, als die Pferde an Etty und mir vorbeikamen.
Sie drehte sich mit zutiefst besorgter Miene zu mir um.
«Pease Pudding kann unmöglich für das Lincoln bereit sein, wenn Lancat so knapp neben ihm einlaufen kann. Überhaupt zeigt die Art, wie Lancat ins Ziel gegangen ist, daß weder Archangel noch Subito so weit sind, wie ich dachte.«
«Beruhige dich, Etty«, sagte ich.»Keine Bange. Betrachte es doch einfach von der anderen Seite.«
Sie runzelte die Stirn.»Was soll das heißen? Mr. Griffon wird sich sehr aufregen, wenn er hört…«
«Etty«, unterbrach ich sie.»Hattest du den Eindruck, daß sich Pease Pudding schnell und leicht bewegt oder nicht?«
«Na ja, eigentlich schon«, sagte sie zweifelnd.
«Dann ist vielleicht Lancat viel besser, als wir erwartet haben. Und nicht die anderen schlechter.«
Sie sah mich mit vor Unentschlossenheit verzogenem Gesicht an.»Aber Alex ist nur ein Lehrling, und Lancat war letztes Jahr nutzlos.«
«In welcher Hinsicht war er nutzlos?«
«Oh… Unkontrolliert. Verspielt. Ohne Aktion.«
«Heute war nichts Unkontrolliertes an ihm«, bemerkte ich.
«Nein«, gab sie zögernd zu.»Wirklich nicht.«
Die Reiter führten die Pferde auf uns zu, und Etty und ich stiegen beide ab, um besser hören zu können, was sie zu sagen hatten. Tommy Hoylake, gebaut wie ein Zwölfjähriger mit einem fehl am Platz wirkenden dreiundvierzig Jahre alten Männergesicht obendrauf, sagte mit seinem angenehmen Berkshire-Akzent, daß er gedacht habe, Pease Pudding sei einen exzellenten Probegalopp gelaufen, bis er Lancat so dicht hinter sich sah. Er hatte Lancat im vergangenen Jahr häufig geritten und hielt nicht viel von ihm.
Andy sagte, Archangel sei wunderbar gegangen, wenn man in Betracht zog, daß es noch fast sechs Wochen bis zum Guineas waren, und Faddy stellte mit seiner hohen, affektierten Stimme fest, daß Subito letztes Jahr seiner Meinung nach nur um Haaresbreite von Pease Pudding entfernt gewesen sei, und er hätte ihm noch näher kommen können, wenn er es wirklich versucht hätte. Tommy und Andy schüttelten den Kopf. Wenn sie es wirklich versucht hätten, hätten auch sie schneller sein können.