Ungefähr zum zehnten Mal drehte er sich auf seinem Sitz um, um durchs Rückfenster zu blicken. Carlo war immer noch da und folgte uns getreulich.
«Morgen«, sagte ich,»kann er uns wieder folgen, nach Liverpool. Außer Buckram, den wir morgen für Sie haben, haben wir noch fünf andere Starter bei dem Rennen, und ich bleibe noch drei Tage dort. Ich werde nicht mit Ihnen nach Teesside kommen, wo Sie Lancat reiten werden.«
Er machte den Mund auf, um zu protestieren, aber ich sagte:»Vic Young wird Lancat begleiten. Er erledigt den ganzen technischen Kram. Es ist das große Rennen des Nachmittags, wie Sie wissen, und Sie werden gegen sehr erfahrene Jockeys reiten. Aber Sie müssen nichts anderes tun, als ruhig auf den Hengst zu steigen, ihn in die richtige Richtung zu lenken und ihm zu sagen, wohin er laufen soll. Und wenn er gewinnt, posaunen Sie um Gottes willen nicht überall herum, wie toll Sie doch sind. Nichts bringt die Leute schneller auf die Palme als ein Prahlhans von Jockey, und wenn Sie die Presse auf Ihrer Seite haben wollen, was Sie ja wohl tun, werden Sie den Ruhm dem Pferd zusprechen. Selbst wenn Ihnen nicht im mindesten nach Bescheidenheit zumute ist, wird es sich auszahlen, so zu tun, als ob.«
Er verdaute meine Worte mit einem sturen Blick, der allmählich weicher wurde und in schlichte Nachdenklichkeit überging. Ich fand, eine empfängliche Stimmung sollte man ruhig ausnützen, also fuhr ich mit den Perlen der Weisheit fort.
«Verzweifeln Sie nicht, wenn Sie irgendein Rennen richtiggehend verpatzen. Das tut jeder irgendwann einmal. Geben Sie es nur sich selbst gegenüber zu. Machen Sie sich selbst nie etwas vor, nie. Regen Sie sich über Kritik nicht auf… und lassen Sie sich Lob nicht zu Kopf steigen… und bewahren Sie auf der Rennbahn die Fassung, immer. Danach können Sie sie verlieren, soviel Sie wollen.«
Nach einer Weile sagte er:»Sie haben mir mehr darüber gesagt, wie ich mich benehmen soll, als wie ich ein Rennen gewinnen soll.«
«Ich setze in Ihre gesellschaftlichen Manieren weniger Vertrauen als in Ihre Reitkunst.«
Er versuchte aus meiner Bemerkung schlau zu werden und wußte nicht, ob er sich über meine Worte freuen sollte oder nicht.
Nach dem Glanz von Doncaster war die Catterick-Bridge-Rennbahn eine Enttäuschung für ihn. Sein Blick nahm die einfachen Tribünen auf, den bescheidenen Waageraum, die Kleinveranstaltungsatmosphäre, und er sagte verbittert:»Ist das alles?«
«Machen Sie sich nichts draus«, sagte ich. Ich hatte selbst nicht gewußt, was mich hier erwarten würde.»Da unten auf der Rennbahn liegen vierzehnhundert wichtige Meter, und die sind alles, was zählt.«
Der Führring selbst lag sehr hübsch inmitten von Bäumen. Alessandro kam in gelber und blauer Seide heraus, zusammen mit einer großen Gruppe anderer Lehrlinge, von denen die meisten eine Spur selbstgefällig oder befangen oder nervös aussahen oder alles gleichzeitig.
Alessandro nicht. Sein Gesicht zeigte kein wie auch immer geartetes Gefühl. Ich hatte erwartet, daß er aufgeregt sein würde, aber das war er nicht. Er sah zu, wie Pullitzer durch den Führring trabte, als interessierte er sich für ihn nicht mehr als für eine Kuhherde. Dann ließ er sich locker in den Sattel gleiten und nahm ohne Hast die Zügel in die Hand. Vic Young stand mit Pullitzers Decke da und sah zweifelnd zu Alessandro auf.
«Also los. Und denken Sie daran: Sie sollen ihn im Feld halten, solange Sie können«, sagte er mahnend.
Alessandro suchte über Vics Kopf hinweg meinen Blick.»Reiten Sie, wie Sie es geplant haben«, sagte ich, und er nickte.
Er ritt direkt zur Bahn, und Vic Young, der ihm nachsah, rief mir zu:»Ich konnte diesen großkotzigen kleinen Mistkerl noch nie leiden, und jetzt sieht er absolut nicht so aus, als wäre er mit dem Herzen bei der Sache.«
«Warten Sie ab, was passiert«, besänftigte ich ihn. Und er wartete. Und es passierte.
Alessandro ritt das Rennen genauso, wie er gesagt hatte. Er hatte die Startnummer fünf von sechzehn Startern bekommen und arbeitete sich auf den ersten vierhundert Metern zu den Rails durch, hielt sich während der nächsten sechshundert stur an fünfter oder sechster Stelle, schob sich danach ein wenig nach vorn, fand auf den letzten sechzig Metern, auf denen Pullitzer alles gab, eine Lücke und schoß nicht mehr als zehn Schritt vom Ziel entfernt durch das führende Paar von Lehrlingen. Der Hengst gewann um anderthalb Längen und hatte bereits begonnen nachzulassen.
Niemand hatte auf ihn gesetzt, und er war nicht viel angefeuert worden, aber das alles schien Alessandro nicht zu brauchen. Er glitt im Absattelring von seinem Pferd herunter und warf mir einen kühlen Blick zu, in dem nichts von der arroganten Selbstzufriedenheit stand, die ich erwartet hatte. Dann löste sich sein Gesicht plötzlich zu jenem Lächeln auf, das ich nur einmal, nämlich während seines Gesprächs mit Margaret, bei ihm gesehen hatte, ein klarer, warmer, unkomplizierter Ausdruck der Freude.
«Ich hab’s geschafft«, sagte er, und ich sagte:»Sie haben es ganz wunderbar geschafft«, und er konnte sehen, daß ich mich genauso freute wie er selbst.
Pullitzers Sieg stieß bei den Pflegern nicht auf Begeisterung. Keiner von ihnen hatte auch nur einen Penny auf ihn gesetzt, und als Vic zurückkam und berichtete, das Pferd müsse sich wirklich gut entwickelt haben, da Alessandro nicht nach Anweisung geritten sei, waren alle schnell bereit, ihm jedes Verdienst abzusprechen. Da er jedoch nur selten mit einem von ihnen sprach, erfuhr er wohl nichts davon.
Als er am nächsten Morgen nach Rowley Lodge kam, war er äußerst reserviert. Etty war mit dem ersten Lot runter zur Flachbahn gegangen, um den Pferden ein paar lange, ruhige Kanter zu geben, die ich wegen der Fahrt, die mir noch bevorstand, nicht mit ansehen konnte. Sie schien nichts dagegen zu haben, sich drei Tage allein um alles zu kümmern, und hatte mir versichert, daß Lancat und Lucky Lindsay (die für ein Tausend-Meter-Rennen für Zweijährige mit einem erfahrenen Jockey aus dem Norden bestimmt waren) am Samstag sicher in Teesside ankommen würden.
Alessandro fuhr mit mir im Jensen, und Carlo folgte uns wie zuvor. Auf dem Hinweg besprachen wir hauptsächlich die Taktiken, die er auf Buckram und Lancat anwenden würde, und wieder war da dieser seltsame Mangel an Erregung, nur diesmal noch deutlicher. Wo ich erwartet hätte, daß er nervös und aufgeregt sein würde, war er vollkommen entspannt. Jetzt, da er tatsächlich Rennen bestritt, schien es, als habe sich sein ungeduldiges Fieber gelegt.
Buckram ging nicht als Sieger durchs Ziel, aber nicht, weil Alessandro das Rennen nicht so geritten hätte, wie er es vorhatte. Buckram lief als Dritter ein, weil zwei andere Pferde schneller waren, und Alessandro akzeptierte dies mit überraschender Gelassenheit.
«Er hat sein Bestes getan«, erklärte er einfach.»Mehr war nicht drin.«
«Das habe ich gesehen«, sagte ich; und das war es.
Während der restlichen Zeit des Drei-Tage-Meetings lernte ich noch sehr viele andere Leute aus der Rennwelt kennen und begann, ein Gefühl für das Gewerbe zu bekommen. Ich sattelte unsere vier Starter, die Tommy Hoylake ritt, und gratulierte ihm, als einer von ihnen siegte.
«Komische Sache«, sagte er,»die Pferde sind dieses Jahr genausoweit wie sonst.«
«Ist das gut oder schlecht?«fragte ich.
«Machen Sie Witze? Aber das nächste Zauberstückchen wird darin bestehen, sie bis September am Laufen zu halten.«
«Mein Vater wird bis dahin zurück sein und dafür sorgen«, versicherte ich ihm.
«Oh… ja. Das wird er wohl«, sagte Tommy ohne den Enthusiasmus, den ich erwartet hätte, und machte sich davon, um sich fürs nächste Rennen abzuwiegen.
Am Samstag segelte Lancat in Teesside mit vier Längen Vorsprung und einem Kurs von fünfundzwanzig zu eins durchs Ziel, was meine Saisongewinne von zweitausend auf viertausendfünfhundert anwachsen ließ. Und das, so überlegte ich, würde wohl die letzte leichte Beute sein: Lancat war der dritte Sieger des Stalls von neun Startern, und niemand würde länger davon ausgehen, daß Rowley Lodge eine Flaute durchmachte.