Ich überdachte meine Ein-Pferd-hat-mich-abgeworfen-Geschichte und ersetzte sie für Etty durch einen Sturz die Treppe hinunter.
«Wie furchtbar lästig«, sagte sie mit forschem Mitleid und hielt mich offensichtlich für unbeholfen.»Ich werde Sie im Landrover nach Waterhall mitnehmen, wenn wir rausgehen.«
Ich dankte ihr, und während wir darauf warteten, daß die Pfleger die Pferde zum ersten Lot aus ihren Boxen führten, gingen wir hinüber in die erste Stallgasse, um nach Archangel zu sehen. Nach Archangel zu sehen war zu meiner häufigsten Beschäftigung geworden.
Er war in der sichersten der Hochsicherheitsboxen untergebracht, und seit Enzos Rückkehr nach England hatte ich ihn Tag und Nacht bewachen lassen. Etty hielt meine Vorsicht für übertrieben, aber ich hatte darauf bestanden.
Bei Tag war Stallgasse eins keinen Augenblick lang unbewacht. Bei Nacht brachte ich das elektrische Auge in Position, um unerwünschte Besucher abzufangen. Zwei eigens zu diesem Zweck eingestellte Sicherheitsleute beobachteten den Stall schichtweise die ganze Zeit vom Besitzerraum aus, dessen Fenster direkt zu Archangels Box ging. Und ihr Schäferhund lag angekettet draußen vor der Box und knurrte jeden an, der sich ihm näherte.
Die Pfleger hatten sich über den Hund beklagt, weil sie jedesmal, wenn sie sich um ein Pferd in Stallgasse eins kümmern mußten, einen der Sicherheitsleute herbeiholen mußten, damit er ihnen half. In allen anderen Ställen, so hatten sie bemerkt, war nur nachts ein Hund im Dienst.
Etty winkte dem Wachposten am Fenster zu. Er nickte, kam auf den Hof hinaus und hielt seinen Hund an kurzer Leine, so daß wir sicher vorbeigehen konnten. Archangel kam, als ich die obere Hälfte der Tür öffnete, sofort heran und schob seine Nase hinaus in den lauen Maimorgen. Ich rieb sein Maul und klopfte ihm auf den Hals, wobei ich sein glänzendes Fell bewunderte und dachte, daß er in all den Wochen, die ich hier verbracht hatte, niemals besser ausgesehen hatte.
«Morgen«, sagte Etty mit glänzenden Augen zu ihm,»morgen werden wir sehen, was in dir steckt, mein Junge. «Sie lächelte mich verschwörerisch an, und es war offensichtlich, daß sie endlich akzeptierte, daß ich einen gewissen Anteil an seiner Vorbereitung gehabt hatte. Im vergangenen Monat, nachdem die Zahl der Sieger immer weiter gestiegen war, hatte sich die ständige Sorge auf ihrem Gesicht weitgehend aufgelöst und jener Zuversicht Platz gemacht, die sie, wie ich mich erinnerte, früher besessen hatte.»Und wir werden sehen, wieviel wir noch mit ihm arbeiten müssen, damit er das Derby gewinnt.«
«Bis dahin wird mein Vater wieder zurück sein«, sagte ich in der Absicht, sie zu beruhigen. Aber die Ungezwungenheit wich aus ihrem Lächeln, und sie sah mich ausdruckslos an.
«Das wird er«, sagte sie.»Wissen Sie… Ich hatte es ganz vergessen.«
Sie kehrte der Box den Rücken und trat hinaus auf den Haupthof. Ich dankte dem großen Expolizisten, der bei uns Wache schob, und bat ihn und seinen Kameraden, während der nächsten vierunddreißig Stunden ganz besonders aufmerksam zu sein.
«So sicher wie die Bank von England, Sir. Machen Sie sich mal keine Sorgen, Sir. «Er war sich seiner Sache vollkommen sicher, aber ich hielt ihn für einen Optimisten.
Alessandro tauchte nicht zum Training auf, weder zum ersten noch zum zweiten Lot. Aber als ich nach einer zweiten Dosis von Ettys ruckartiger Fahrweise steif aus dem Landrover kletterte, stand er am Eingang des Hofes und wartete auf mich. Als ich auf die Tür des Büros zuging, kam er mir entgegen und blieb vor mir stehen.
Ich blieb ebenfalls stehen und sah ihn an. Seine Haltung war starr und sein Gesicht dünn und weiß vor Anspannung.
«Es tut mir leid«, stieß er hervor.»Es tut mir leid. Er hat mir erzählt, was er getan hat… Ich wollte das nicht. Ich habe ihn nicht darum gebeten.«
«Gut«, sagte ich beiläufig. Mir wurde bewußt, daß ich meinen Kopf immer zur Seite neigte, weil es auf diese Weise weniger schmerzte. Ich hatte das Gefühl, es sei langsam an der Zeit, sich aufzurichten. Ich richtete mich auf.
«Er sagte, Sie wären jetzt einverstanden, mich morgen Archangel reiten zu lassen.«
«Und was glauben Sie?«fragte ich.
Er sah verzweifelt aus, antwortete aber ohne jeden Zweifel.
«Ich glaube, Sie werden es nicht tun.«
«Sie haben eine Menge dazugelernt«, sagte ich.
«Ich habe von Ihnen gelernt. «Plötzlich schloß er den Mund und schüttelte den Kopf.»Ich meine… ich bitte Sie, mich Archangel reiten zu lassen.«
Sanft sagte ich:»Nein.«
Die Worte sprudelten aus ihm heraus:»Aber er wird Ihnen den anderen Arm brechen. Er hat es gesagt, und er tut immer, was er sagt. Er wird Ihnen wieder einen Arm brechen, und ich… und ich…«Er schluckte und versuchte, seine Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen, bevor er mit viel mehr Selbstbeherrschung fortfuhr:»Ich habe ihm heute morgen gesagt, es sei richtig, daß ich Archangel nicht reite. Ich habe ihm gesagt, daß Sie, wenn er Ihnen noch weiteren Schaden zufüge, der Rennleitung alles erzählen würden und ich Rennbahnverbot bekäme. Ich habe ihm gesagt, daß ich nicht will, daß er noch irgend etwas hier tut. Ich will, daß er mich hier bei Ihnen läßt, damit ich auf eigenen Füßen stehen kann.«
Ich holte langsam und tief Luft.»Und was hat er darauf geantwortet?«
Er schien ebenso verwirrt wie verzweifelt.»Ich glaube, es hat ihn noch wütender gemacht.«»Es geht ihm gar nicht so sehr darum, ob Sie Archangel im Guineas reiten oder nicht«, erklärte ich ihm.»Ihm geht es nur darum, mich zu zwingen, Sie reiten zu lassen. Es geht ihm darum, Ihnen zu beweisen, daß er Ihnen alles geben kann, worum Sie ihn bitten, genau wie immer.«
«Aber ich bitte ihn doch jetzt darum, Sie in Ruhe zu lassen. Mich hierbleiben zu lassen. Und er hört einfach nicht zu.«
«Sie bitten ihn um das einzige, was er Ihnen nicht geben wird«, sagte ich.
«Und was ist das?«
«Freiheit.«
«Das verstehe ich nicht«, sagte er.
«Weil er Ihnen keine Freiheit geben wollte, hat er Ihnen alles andere gegeben. Alles… um Sie festzuhalten. Wie er es sieht, habe ich Ihnen in letzter Zeit das einzige angeboten, was er Ihnen nicht zugestehen will. Die Möglichkeit, aus eigener Kraft Erfolg in Ihrem Leben zu erzielen. Also geht es bei seinem Kampf mit mir in Wirklichkeit gar nicht darum, wer Archangel morgen reitet; es geht um Sie.«
Jetzt verstand er. Es traf ihn wie eine Offenbarung.
«Ich werde ihm sagen, daß er keine Angst zu haben braucht, mich zu verlieren«, sagte er leidenschaftlich.»Dann wird er Ihnen nichts mehr tun.«
«Tun Sie das nicht. Seine Furcht, Sie zu verlieren, ist alles, was ihn am Leben erhält.«
Sein Mund öffnete sich. Er starrte mich mit schwarzen Augen an, ein Bauer, verloren zwischen den Türmen.
«Aber was… was soll ich denn dann tun?«
«Sagen Sie ihm, daß Tommy Hoylake morgen Archangel reiten wird.«
Sein Blick wanderte von meinem Gesicht hinunter zu dem Höcker, unter dem der Rucksackverband steckte, und zu dem
Umriß meines Armes in seiner Schlinge unter meinem Pullover.
«Das kann ich nicht«, sagte er.
Ich lächelte halb.»Er wird es bald genug herausfinden.«
Alessandro schauderte leicht.»Sie verstehen nicht. Ich habe gesehen…«Seine Stimme verlor sich, und er blickte mit einer Art jähem Erwachen wieder in mein Gesicht.»Ich habe die Menschen gesehen, die er verletzt hat. Nachher habe ich sie gesehen. Es stand Furcht in ihren Gesichtern. Und auch Scham. Ich dachte nur… wie klug er war… zu wissen, wie man die Menschen dazu zwingt, zu tun, was man will. Ich habe gesehen, wie alle ihn fürchten… und ich dachte, er sei wunderbar. «Er holte zitternd Luft.»Ich möchte nicht, daß Sie so aussehen wie die anderen, wenn er mit Ihnen fertig ist.«
«Das werde ich nicht«, sagte ich mit mehr Überzeugung, als ich empfand.
«Aber er wird nicht einfach Tommy Archangel reiten lassen und nichts dagegen unternehmen. Ich kenne ihn. Ich weiß, daß er das nicht tun wird. Ich weiß, er meint, was er sagt. Sie wissen nicht, wie er sein kann… Sie müssen mir glauben. Sie müssen.«