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Ein leichter Schuß für einen guten Schützen. Er hatte es nicht einmal für nötig befunden, ein Zielfernrohr zu benutzen. Auf diese Entfernung und mit einer Lee Enfield brauchte man auch keins. Man brauchte auch nicht punktgenau zu zielen: ein Treffer irgendwo am Kopf oder Rumpf, und die Sache war erledigt. Ich seufzte. Hätte er ein Zielfernrohr benutzt, wäre ihm wahrscheinlich aufgefallen, daß er auf Alessandro zielte.

Ich stand auf. Unbeholfen, unter Schmerzen und den Moment verwünschend, in dem ich niedergekniet war.

Alessandro war nicht ohnmächtig geworden. Hatte sich nicht übergeben. Der Schweiß auf seinem Gesicht war getrocknet, und er sah seinen Vater unverwandt an.

Als ich auf ihn zuging, drehte er sich um, aber er brauchte zwei oder drei Versuche, bevor seine Stimme ihm wieder gehorchte.

Schließlich gelang es ihm. Er klang angespannt, verzerrt, heiser — und was er sagte, taugte auch ganz gut als Grabinschrift.

«Er hat mir alles gegeben«, sagte er.

Wir gingen zurück zur Straße, wo Alessandro Lucky Lindsay an einen Zaun gebunden hatte. Der Hengst, von den Geschehnissen unbeeindruckt, weidete im Gras.

Keiner von uns sagte etwas.

Etty kam mit dem Landrover angepoltert, und ich überredete sie, ihn zu wenden und mich direkt in die Stadt zu fahren.

«Ich bin gleich wieder da«, sagte ich zu Alessandro, aber er starrte nur schweigend und mit Augen, die zu viel gesehen hatten, ins Leere.

Als ich zurückkam, hatte ich die Polizei bei mir. Etty war auf Rowley Lodge geblieben, um dort nach dem Rechten zu sehen, denn es war immer noch und unglaublicherweise Guineas-Tag, und wir mußten uns um Archangel kümmern. In der Stadt machte ich noch einen Abstecher zum Arzt, wo ich an einer empörten Schlange in seinem Wartezimmer vorbeiging und ihn dazu brachte, die Enden meines Schlüsselbeins wieder in eine gerade Linie zu bringen. Danach war es etwas erträglicher, aber immer noch kein Grund zum Jubeln.

Den größten Teil des Vormittags verbrachte ich oben an der Kreuzung. Beantwortete einige Fragen und schwieg zu anderen. Alessandro hörte, wie ich dem ranghöchsten Polizisten, der aus Cambridge gekommen war, erzählte, daß Enzo auf mich einen äußerst unausgeglichenen Eindruck gemacht habe.

Der Polizeiarzt nahm diese Laienäußerung mit Skepsis auf.

«In welcher Hinsicht?«fragte er ohne besonderen Respekt.

Ich hielt inne, um nachzudenken.»Schon mal einen Syphilitiker gesehen?«fragte ich, und seine Augen weiteten sich jäh, bevor er wieder im Gebüsch verschwand.

Alessandro gegenüber benahmen sie sich sehr rücksichtsvoll. Er saß am Straßenrand im Gras auf irgend jemandes Regenmantel, und später verabreichte der Polizeiarzt ihm ein Beruhigungsmittel.

Es war eine Injektion, und Alessandro wollte sie nicht. Die Männer schenkten seinen Einwänden keine Beachtung, und als die Nadel in seinem Arm steckte, bemerkte ich, daß er mir starr ins Gesicht sah. Er wußte, daß auch ich an viele andere Injektionen dachte, an mich selbst, an Carlo und Moonrock und Indigo und Buckram. Zu viele Nadeln. Zu viel Tod.

Das Medikament machte ihn nicht bewußtlos, sondern ließ ihn nur noch benommener aussehen als zuvor. Die Polizei beschloß, er solle ins Forbury Inn zurückkehren und schlafen, und jemand führte ihn zu einem Streifenwagen.

Er blieb vor mir stehen, bevor er den Wagen erreichte, und sah mich aus den dunklen Augenhöhlen, die tief in seinem grauen, ausgezehrten Gesicht lagen, ergriffen an.

«Sehen Sie nur die Blumen«, sagte er.»Auf dem Grab des Jungen.«

Als er fort war, ging ich hinüber zu dem Regenmantel, auf dem er gesessen hatte, ganz in der Nähe des kleinen Hügels.

Dort standen hellgelbe Schlüsselblumen und am Rand blaue Vergißmeinnicht — und der ganze mittlere Bereich war voller Stiefmütterchen. Dunkelpurpurne, samtene Stiefmütterchen, die im Sonnenlicht einen schwarzen Schimmer hatten.

Es war zynisch von mir, daß ich überlegte, ob er selbst die Blumen gepflanzt haben konnte.

Enzo lag im Leichenschauhaus, und Alessandro war in tiefen

Schlaf versunken, als Archangel und Tommy Hoylake das Guineas gewannen.

So hatten sie es nicht geplant.

Den ganzen Nachmittag fühlte ich mich gedrückt wie vor einem drohenden Gewitter, obwohl es nun gar keinen Grund mehr dafür gab. Die Bekämpfung Enzos nahm nicht mehr die Hälfte meiner Energie in Anspruch, aber ich fand es unmöglich, seinen Einfluß auf einen Schlag abzuschütteln. Erst jetzt begriff ich, wie stark dieser Einfluß geworden war.

Was ich hätte empfinden müssen, war Erleichterung darüber, daß der Stall gerettet war. Was ich tatsächlich empfand, war Niedergeschlagenheit.

Der Bankier, Archangels Besitzer, glühte praktisch vor Glück. Mit strahlendem Gesicht und zitternd vor Stolz stand er im Absattelring und scherzte mit der Presse.

«Gut gemacht, mein Junge, wirklich gut gemacht«, sagte er zu mir, zu Tommy und zu Archangel gleichermaßen und sah so aus, als würde er uns gleich alle umarmen.

«Und jetzt, mein Junge, jetzt auf zum Derby, hm?«

«Jetzt auf zum Derby«, nickte ich und fragte mich, wie bald mein Vater nach Rowley Lodge zurückkehren würde.

Am nächsten Tag besuchte ich ihn.

Er sah noch bedrohlicher aus als gewöhnlich, denn er hatte alles über die mehrfachen Morde auf der Galoppbahn gehört.

Er gab mir die Schuld daran, daß etwas Derartiges geschehen konnte. Es bewahrte ihn außerdem davor, überlegte ich säuerlich, etwas Nettes über Archangel sagen zu müssen.

«Du hättest diesen Lehrling niemals nehmen dürfen.«

«Nein«, sagte ich.

«Der Jockey Club wird ernsthaft verstimmt sein.«»Ja.«

«Der Mann muß wahnsinnig gewesen sein.«

«So ungefähr.«

«Absolut wahnsinnig, zu glauben, er könne, indem er Tommy Hoylake tötet, erreichen, daß sein Sohn Archangel reiten darf.«

Ich hatte der Polizei irgend etwas sagen müssen, und ich hatte ihnen das gesagt. Es schien zu genügen.

«Besessen«, pflichtete ich ihm bei.

«Aber das hätte dir doch gewiß vorher auffallen müssen? Er hat doch gewiß irgendwelche Anzeichen gezeigt?«

«Das hat er wohl«, stimmte ich neutral zu.

«Dann hättest du doch gewiß in der Lage sein müssen, ihn aufzuhalten.«

«Ich habe ihn aufgehalten… in gewisser Hinsicht.«

«Nicht sehr wirkungsvoll«, beklagte er sich.

«Nein«, sagte ich geduldig und dachte, daß der einzige, der Enzo wirkungsvoll und endgültig aufgehalten hatte, Cal gewesen war.

«Was ist los mit deinem Arm?«

«Habe mir das Schlüsselbein gebrochen«, sagte ich.

«Pech.«

Er blickte auf sein immer noch in der Luft schwebendes Bein und sprach damit beinahe, aber nicht ganz aus, daß ein Schlüsselbein ein Pappenstiel war im Vergleich zu dem, was er ertragen hatte. Womit er übrigens recht hatte.

«Wie bald wirst du rauskommen?«fragte ich.

Er antwortete mit einer halb selbstgefälligen, halb unverkennbar boshaften Freude.»Früher, als es dir vielleicht gefällt.«

«Ich wünsche mir wirklich nicht, daß du hierbleibst«, protestierte ich.

Er machte einen leicht bestürzten Eindruck, einen leicht beschämten.

«Nein… na ja… die Ärzte sagen, es dauert jetzt nicht mehr lange.«

«Je früher, desto besser«, sagte ich und versuchte, es auch so zu meinen.

«Mach kein Training mehr mit Archangel. Ich entnehme übrigens dem Rennkalender, daß du eigene Nennungen gemacht hast. Ich möchte nicht, daß du das tust. Ich bin durchaus in der Lage, selbst zu entscheiden, wo meine Pferde laufen sollen.«