Sie blickte auf und straffte sich.»Glaub’ ich nicht.«
«Ist der Radfahrer verletzt?«
«Ein bißchen mitgenommen«, gab sie zu.
«Und die Frau mit dem Kinderwagen?«
«Wenn jemand während der Morgenarbeit mit einem Baby im Wagen und einem Kleinkind an der Hand über die Moulton Road geht, sollte er auf durchgehende Pferde gefaßt sein. Das blöde Weib hörte überhaupt nicht mehr auf zu schreien. Was den Hengst natürlich endgültig aus der Fassung brachte. Gerade hatte ihn jemand eingefangen, aber bei diesem Geschrei riß er sich natürlich los und galoppierte in die Stadt.«
Sie hielt inne und sah mich an.»Tut mir leid, das Ganze.«
«Kann vorkommen«, sagte ich. Ich unterdrückte ein kleines, innerliches Lachen über die Position von Hengsten und Babys in
Ettys Rangordnung. Nicht weiter überraschend. Für sie waren Hengste eben wichtiger als Menschen — und damit basta.
«Wir waren gerade mit dem Kanter durch«, sagte sie.»Der Boden war in Ordnung. Wir sind das ganze Programm durchgegangen, das wir gestern zusammengestellt hatten. Und als wir gerade nach Hause reiten wollten, hat Lucky Lindsay Ginge abgeworfen.«
«Ist der Hengst zuviel für ihn?«
«Hätte ich eigentlich nicht gedacht. Er hat ihn schon früher geritten.«
«Das ist deine Entscheidung, Etty.«
«Dann gebe ich ihm jetzt für ein oder zwei Tage ein leichteres Pferd…«Fast ein Eingeständnis, daß es ein Fehler gewesen war, Ginge auf Lucky Lindsay zu setzen — für ihre Verhältnisse schon sehr viel. Sie führte den Hengst weg und übergab ihn seinem Pfleger. Jeder konnte vom Pferd fallen, jederzeit. Nur manchen passierte es eben öfter als anderen.
Frühstück. Die Pfleger versorgten die Pferde, die sie gerade geritten hatten, und eilten in den Speiseraum zu Porridge, Schinkenbroten und Tee. Ich ging zurück ins Haus und hatte nicht den geringsten Appetit.
Es war immer noch kalt im Haus. Traurige Berge von Tannenzapfen stapelten sich in den Kaminen von zehn Schlafzimmern voller unter Schonbezügen verborgenen Betten, und im Salon stand ein kunstvoll geschmiedeter Ofenschirm vor der Feuerstelle. In dem höhlenartigen Schlafzimmer, das mein Vater benutzte, befand sich eine Heizsonne und in dem eichenvertäfelten Raum, in dem er des Abends am Schreibtisch saß, ein winziger elektrischer Heizkörper. Nicht einmal in der Küche war es warm, da der Herd seit Monaten in Reparatur war. Ich war in diesem Haus aufgewachsen und nahm daher normalerweise die Kälte, die im Winter dort herrschte, gar nicht mehr wahr: Aber schließlich war ich normalerweise ja auch nicht in so elender Verfassung.
In der Küchentür tauchte ein Kopf auf. Gepflegtes dunkles Haar schlang sich weich um den Nacken, um dann in einem triumphalen Arrangement hochaufgetürmter Locken oben auf dem Kopf zu gipfeln.
«Mr. Neil?«
«Ach. Guten Morgen, Margaret.«
Ein Paar schöner, dunkler Augen unterzog mich einer eingehenden Musterung. Schmale Nasenflügel bebten leicht, witterten die Atmosphäre. Wie gewöhnlich bekam ich nicht mehr zu sehen als den Hals und die Hälfte einer Wange, denn die Sekretärin meines Vaters war mit ihrer Gegenwart genauso sparsam wie mit allem anderen.»Es ist kalt hier drinnen«, sagte sie.
«Ja.«
«Im Büro ist es wärmer.«
Die Kopfhälfte verschwand und kam nicht wieder. Ich beschloß anzunehmen, was — wie ich wußte — als Einladung gemeint war, und ging zurück in den Teil des Hauses, der an den Hof grenzte. Dort lagen das Stallbüro, ein Garderobenraum und das einzige Zimmer, dessen Mobiliar das Gefühl von Komfort aufkommen ließ, das Zimmer, das wir den Besitzerraum nannten; hier empfingen wir Besitzer und verschiedene andere Leute, die dem Stall gelegentlich einen Besuch abstatteten.
Das künstliche Licht im Büro leuchtete hell gegen das Grau des Tages an. Margaret legte ihren Schaffellmantel ab, während ein pilzförmiges Heizgerät emsig heiße Luft ausstieß.
«Anweisungen?«fragte sie kurz.
«Ich habe die Briefe noch nicht geöffnet.«
Sie warf mir einen schnellen, verständnisvollen Blick zu.
«Ärger?«
Ich erzählte ihr von Moonrock und Lucky Lindsay. Sie hörte aufmerksam zu, verriet keinerlei Gefühle und fragte, wie ich zu den Schnitten in meinem Gesicht gekommen sei.
«Bin gegen eine Tür gerannt.«
Ihr Gesichtsausdruck sagte unmißverständlich:»Wer’s glaubt, wird selig«, aber sie behielt ihre Meinung für sich.
Auf ihre Weise war sie genauso unweiblich wie Etty, trotz ihres Rocks, ihrer Frisur und ihres zweckmäßigen Make-ups. Sie war Ende Dreißig, seit drei Jahren Witwe und zog mit meisterhafter Organisation einen Jungen und ein Mädchen groß; sie strotzte nur so vor Intelligenz und hielt die Welt um Armeslänge von ihrem Herzen fern.
Margaret war neu auf Rowley Lodge. Sie hatte die Stelle des maushaften alten Robinson übernommen, der schließlich, wenn auch widerwillig, mit siebzig Jahren in den Ruhestand getreten war. Der alte Robinson hatte gern ein Schwätzchen gehalten und in meiner Kindheit viele seiner Arbeitsstunden damit vertrödelt, mir von jenen Tagen zu erzählen, in denen Charles der Zweite selbst Rennen geritten war und Newmarket zur zweiten Hauptstadt Englands gemacht hatte, so daß die Botschafter sich hierher bemühen mußten, wenn sie mit ihm sprechen wollten. Oder er erzählte mir, wie der Prinzregent die Stadt für immer verließ, weil man nach einem Rennen den Lauf seines Hengstes Escape untersucht hatte, wie er sich weigerte zurückzukehren, obwohl er darum gebeten wurde und der Jockey Club sich entschuldigte, und wie König Edward der Siebte im Jahre 1905 Schwierigkeiten mit der Polizei bekam, weil er die Straße nach London hinuntergejagt war — mit vierzig Meilen die Stunde auf gerader Strecke.
Margaret verrichtete die Arbeit des alten Robinson sorgfältiger und in der Hälfte der Zeit, und nachdem ich sie nun sechs Tage kannte, verstand ich, warum mein Vater so große Stücke auf sie hielt. Sie verlangte keine Freundlichkeiten, und er war ein Mann, der die meisten menschlichen Beziehungen langweilig fand. Nichts ermüdete ihn schneller als Menschen, die ständig Aufmerksamkeit für ihre Gefühle und Probleme heischten, und selbst Höflichkeitsfloskeln über das Wetter irritierten ihn. Margaret schien eine verwandte Seele zu sein, und sie kamen hervorragend miteinander aus.
Ich ließ mich in den drehbaren Bürosessel meines Vaters fallen und wies Margaret an, die Briefe selbst zu öffnen. Mein Vater ließ niemals jemanden seine Briefe öffnen und war in dieser Hinsicht geradezu verbohrt. Sie tat einfach, was ich sagte, ohne Kommentar, sei es mit Worten oder Gesten. Wunderbar.
Das Telefon klingelte. Margaret nahm den Hörer ab.
«Mr. Bredon? O ja. Er wird sich freuen, daß Sie anrufen. Ich werde Sie zu ihm durchstellen.«
Sie reichte mir den Hörer über den Schreibtisch und sagte:»John Bredon.«
«Danke.«
Ohne eine Spur des Eifers, den ich noch tags zuvor gezeigt hätte, nahm ich den Hörer. Ich hatte drei aufreibende Tage damit zugebracht, jemanden zu finden, der kurzfristig frei war und Rowley Lodge übernehmen konnte, bis das Bein meines Vaters geheilt war. Und von allen Leuten, die hilfsbereite Freunde vorgeschlagen hatten, schien einzig John Bredon, ein älterer, vor kurzem in den Ruhestand getretener Trainer, über ausreichend Erfahrung und Format zu verfügen. Er hatte sich Bedenkzeit erbeten und gesagt, er würde mich seine Entscheidung so bald als möglich wissen lassen.
Er rief an, um mir zu sagen, daß er gern kommen würde. Ich dankte ihm und erteilte ihm mit einer verlegenen Entschuldigung eine Absage.»Es ist so, ich habe noch einmal darüber nachgedacht und beschlossen, selbst hierzubleiben.«
Langsam legte ich den Hörer auf die Gabel; Margarets Erstaunen war deutlich zu spüren. Ich erklärte nichts. Sie fragte nichts. Nach einer Pause machte sie sich daran, die übrigen
Briefe zu öffnen.
Wieder klingelte das Telefon. Diesmal fragte sie mich mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck, ob ich vielleicht Mr. Russell Arletti zu sprechen wünsche.