«Es fehlen einige Rechnungsbücher«, bemerkte sie.
«Ich habe sie gestern abend mitgenommen«, sagte ich.»Sie sind im Eichenzimmer. Ich hole sie.«
Das Eichenzimmer war still und leer. Ich fragte mich, wie der Sergeant wohl reagieren würde, wenn ich ihn hierherbrächte und ihm erzählte, daß mich gestern nacht zwei gesichtslose Männer niedergeschlagen, gefesselt und mit Gewalt aus meinem Haus verschleppt hatten. Daß sie mich außerdem fast getötet und mich schließlich mit einem Narkosemittel vollgepumpt hatten, bevor sie mich wieder zurückbrachten.
«Ach ja, Sir? Und wollen Sie Anzeige erstatten?«
Ich lächelte flüchtig. Das Ganze schien lächerlich. Der Sergeant würde mich mit einem Maximum an Ungläubigkeit ansehen, und ich würde ihm kaum einen Vorwurf daraus machen können. Lediglich mein desolater Gesundheitszustand und das zerschmetterte Telefon auf dem Schreibtisch verliehen den nächtlichen Ereignissen überhaupt eine gewisse Glaubwürdigkeit.
Der dicke Mann, so überlegte ich, hätte mir eigentlich vom Gang zur Polizei gar nicht abraten müssen. Das erledigte schon der Sergeant für ihn.
Als ich Margaret die Rechnungsbücher zurückbrachte, kam Etty wutschnaubend ins Büro gestürmt.
«Von allen wichtigtuerischen Schwachköpfen.«
«Passiert so etwas oft?«fragte ich.
«Ganz bestimmt nicht«, sagte Etty nachdrücklich.»Es kommt natürlich schon mal vor, daß ein Pferd sich losreißt, aber für gewöhnlich wird dergleichen ohne viel Aufhebens erledigt. Und ich habe diesem alten Mann mit dem Fahrrad gesagt, daß Sie für den Schaden aufkommen würden. Warum er auch noch zur Polizei gehen mußte, ist mir schleierhaft.«
«Ich werde ihn heute abend aufsuchen«, sagte ich.
«Also, der alte Sergeant, Sergeant Chubb«, sagte Etty ungehalten,»der hätte die Sache selbst in die Hand genommen. Der wär’ nicht hierhergekommen, um Aussagen aufzunehmen. Aber der von heute ist ein neuer. Sie haben ihn von Ipswich hierher versetzt, und das scheint ihm nicht zu gefallen. Frisch befördert, würde ich sagen. Ganz erfüllt von seiner eigenen Wichtigkeit.«
«Die Streifen waren neu«, murmelte Margaret zustimmend.
«Wir hatten hier immer gute Beziehungen zur Polizei«, fuhr Etty düster fort.»Ist mir wirklich ein Rätsel, was die sich dabei gedacht haben, uns jemanden herzuschicken, der nicht die geringste Ahnung von Pferden hat.«
Der Dampf war abgelassen. Etty atmete hörbar durch die Nase ein, zuckte mit den Schultern und zauberte ein kleines resigniertes Lächeln hervor.
«Na ja… gibt Schlimmeres auf der Welt.«
Sie hatte sehr blaue Augen und feines braunes Haar, das sich bei feuchtem Wetter kräuselte. Die mittleren Jahre hatten ihre Haut rauh werden lassen, ohne ihr jedoch Falten zu bescheren, und wie die meisten Frauen mit unterentwickeltem Geschlechtstrieb hatten ihre Gesichtszüge etwas Männliches. Sie hatte dünne Lippen und buschige Augenbrauen, die sie sich niemals zupfte, und die Attraktivität ihrer Jugend gab es nur noch in meiner Erinnerung. Etty erschien vielen, die sie beobachteten, als ein trauriger, verbrauchter Mensch, aber an und für sich fand sie Erfüllung in ihrem Beruf und war in ihrer Geschäftigkeit zufrieden.
Sie stapfte in ihren Reithosen und Schaftstiefeln davon, und wir hörten, wie sie mit einem glücklosen Jungen schimpfte, den sie bei einer Schandtat ertappt hatte. Rowley Lodge brauchte Etty Craig. Alessandro Rivera brauchte es so dringend wie ein Loch im Kopf.
Er kam am Spätnachmittag.
Ich war draußen im Hof; es war Abendstallzeit, und ich sah mir die Pferde noch einmal an. Mit Etty neben mir war ich gerade bis in die fünfte Stallgasse gekommen, von wo aus wir um den unteren Hof herumgehen wollten, um uns wieder bis zum Haus hinaufzuarbeiten.
Einer der fünfzehnjährigen Lehrjungen kam nervös auf uns zu, als wir aus einer Box heraustraten und gerade in die nächste hinein wollten.
«Da möchte jemand mit Ihnen sprechen, Sir.«
«Wer?«
«Weiß ich nicht, Sir.«
«Ein Besitzer?«
«Weiß ich nicht, Sir.«
«Wo ist er?«
«Oben in der Einfahrt, Sir.«
Ich schaute über seinen Kopf hinweg. Auf der anderen Seite des Hofs, draußen auf dem Kies, parkte ein großer, weißer Mercedes mit einem uniformierten Chauffeur, der neben der Motorhaube stand.
«Machst du weiter, Etty, ja?«sagte ich.
Ich ging über den Hof und hinauf zur Einfahrt. Der Chauffeur verschränkte die Arme vor der Brust und verkniff die Lippen, wie um sich gegen jede Verbrüderung zu verbarrikadieren. Ich blieb ein paar Schritte von ihm entfernt stehen und schaute in das Innere des Wagens.
Eine der hinteren Türen, diejenige, die mir am nächsten war, öffnete sich. Ein kleiner, schwarzbeschuhter Fuß erschien, dann ein dunkles Hosenbein und schließlich nach und nach der ganze Mann.
Es war mir sofort klar, wer er war, obwohl die Ähnlichkeit mit seinem Vater sich auf den autokratischen Höcker auf der Nase und die steinerne Unerschütterlichkeit in seinen schwarzen Augen beschränkte. Der Sohn war ein wenig kleiner und ausgesprochen mager, nicht dick. Seine Haut war fahl und schien dringend etwas Sonne zu benötigen, und sein dichtes, schwarzes Haar kräuselte sich in elastischen Locken um seine Ohren. Seine ganze Erscheinung war von einer beunruhigenden Reife, und die starre Entschlossenheit seines Mundes hätte einer Stahlfalle Ehre gemacht. Er mochte zwar erst achtzehn Jahre alt sein, aber es war lange her, daß er ein Junge gewesen war.
Ich schätzte, daß seine Stimme wie die seines Vaters sein würde; kategorisch, akzentfrei und argwöhnisch.
Es stimmte.
«Ich bin Rivera«, verkündete er.»Alessandro.«
«Guten Abend«, sagte ich, und es sollte höflich, kühl und unbeeindruckt klingen.
Er blinzelte.
«Rivera«, wiederholte er.»Ich bin Rivera.«
«Ja«, stimmte ich ihm zu.»Guten Abend. «Er sah mich mit wachsender Aufmerksamkeit an. Wenn er erwartet hatte, daß ich vor ihm im Staube kriechen würde, stand ihm eine Enttäuschung bevor. Und meine Haltung mußte ihm ein wenig von dieser Botschaft übermittelt haben, denn er sah plötzlich gelinde überrascht und noch eine Spur arroganter aus.
«Ich höre, Sie haben den Wunsch, Jockey zu werden«, sagte ich.
«Die Absicht.«
Ich nickte lässig.»Niemand hat Erfolg als Jockey ohne Entschlossenheit«, sagte ich und ließ meine Worte herablassend klingen.
Er hörte den Unterton augenblicklich heraus. Er gefiel ihm nicht. Das freute mich. Aber es war nur ein winziger, unbedeutender Widerstand, den ich zeigte, und an seiner Stelle hätte ich ihn lediglich als Beweis frustrierter Kapitulation betrachtet.
«Ich bin gewohnt, Erfolg zu haben«, sagte er.
«Wie überaus erfreulich«, erwiderte ich trocken.
Damit war eine absolute Feindseligkeit zwischen uns besiegelt. Ich spürte förmlich, wie er den Overdrive einlegte, und mir schien, daß er sich geistig darauf einstellte, für sich selbst die Schlacht auszufechten, von der er überzeugt gewesen war, daß sein Vater sie bereits gewonnen hatte.
«Ich werde sofort anfangen«, sagte er.
«Ich bin mitten in der Abendstallzeit«, erwiderte ich sachlich.»Wenn Sie warten wollen, können wir Ihre Angelegenheit besprechen, wenn ich fertig bin. «Ich ließ ihm die Höflichkeit einer Neigung meines Kopfes zuteil werden, die ich auch jedem anderen erwiesen hätte, und ohne darauf zu warten, daß er sein dürftiges Gewicht noch weiter in die Waagschale warf, drehte ich mich gelassen um und ging ohne Hast zurück zu Etty.