Knulp las den Namen auf dem nächsten Kreuz und sagte: »Der heißt Engelbert Auer und ist über sechzig Jahr alt geworden. Dafür liegt er jetzt unter Reseden, was eine feine Blume ist, und hat es ruhig. Reseden möcht ich schon auch einmal haben, und einstweilen nehm ich eine von den hiesigen mit.«
Ich sagte: »Laß sie nur und nimm was anderes, Reseden welken bald.«
Er brach doch eine ab und steckte sie auf seinen Hut, der neben ihm im Grase lag.
»Wie es da schön still ist!« sagte ich.
Und er: »Ja, schon. Und wenn es noch ein wenig stiller wär, so könnten wir wohl die da drunten reden hören.«
»Das nicht. Die haben ausgeredet.«
»Weiß man’s? Man sagt doch immer, der Tod ist ein Schlaf, und im Schlaf redet man oft und singt auch mitunter.«
»Du vielleicht schon.«
»Ja, warum nicht? Und wenn ich verstorben wär, da würd ich warten, bis am Sonntag die Mädlein herüberkommen und still herumstehen und sich von einem Grab ein Blümlein abbrechen, und dann würd ich ganz leis anfangen singen.«
»So, und was denn?«
»Was? Irgendein Lied.«
Er legte sich lang auf den Boden, machte die Augen zu und fing bald mit einer leisen, kindlichen Stimme an zu singen:
»Weil ich früh gestorben bin, Drum singet mir, ihr Jüngferlein, Ein Abschiedslied. Wenn ich wiederkomm, Wenn ich wiederkomm, Bin ich ein schöner Knabe.«
Ich mußte lachen, obwohl das Lied mir gut gefiel. Er sang schön und zart, und wenn manchmal die Worte keinen völligen Sinn hatten, war doch die Melodie recht fein und machte es schön.
»Knulp,« sagte ich, »versprich den Jungfern nicht zu viel, sonst hören sie dir bald nimmer zu. Das mit dem Wiederkommen ist schon recht, aber gewiß weiß das kein Mensch, und ob du dann gerade ein schöner Knabe wirst, das ist erst recht nicht sicher.«
»Sicher ist es nicht, das stimmt. Aber es wäre mir lieb. Weißt du noch, vorgestern, der kleine Bub mit der Kuh, den wir nach dem Weg gefragt haben? So wär ich gern wieder einer. Du nicht auch?«
»Nein, ich nicht. Ich habe einmal einen alten Mann gekannt, wohl über siebzig, der hat so still und gut geblickt, und mir kam es vor, als könne an ihm nur Gutes und Kluges und Stilles sein. Und seither denk ich hie und da, so möcht ich gern auch einer werden.«
»Ja, da fehlt dir noch ein Stückchen dran, weißt du. Und es ist überhaupt komisch mit dem Wünschen. Wenn ich jetzt im Augenblick bloß zu nicken brauchte und wäre dann so ein netter kleiner Bub, und du brauchtest bloß zu nicken und wärst ein feiner milder alter Kerl, so würde doch keiner von uns nicken. Sondern wir würden ganz gern bleiben, wie wir sind.«
»Das ist auch wahr.«
»Wohl. Und auch sonst, schau. Oft denk ich mir: Das Allerschönste und Allerfeinste, was es überhaupt gibt, das ist ein schlankes junges Fräulein mit einem blonden Haar. Stimmt aber nicht, denn man sieht oft genug, daß eine Schwarze fast noch schöner ist. Und außerdem, es geschieht auch wieder, daß mir so scheint: Das Allerschönste und das Feinste von allem ist doch ein schöner Vogel, wenn man ihn so frei in der Höhe sieht schweben. Und ein andermal ist gar nichts so wundersam wie ein Schmetterling, ein weißer zum Beispiel mit roten Augen auf den Flügeln, oder auch ein Sonnenschein am Abend in den Wolken droben, wenn alles glänzt und doch nicht blendet, und alles dann so froh und unschuldig aussieht.«
»Ganz recht, Knulp. Es ist eben alles schön, wenn man es in der guten Stunde anschaut.«
»Ja. Aber ich denke noch anders. Ich denke, das Schönste ist immer so, daß man dabei außer dem Vergnügen auch noch eine Trauer hat oder eine Angst.«
»Ja wie denn?«
»Ich meine so: Eine recht schöne Jungfer würde man vielleicht nicht gar so fein finden, wenn man nicht wüßte, sie hat ihre Zeit und danach muß sie alt werden und sterben. Wenn etwas Schönes immerfort in alle Ewigkeit gleich bleiben sollte, das würde mich wohl freuen, aber ich würd es dann kälter anschauen und denken: Das siehst du immer noch, es muß nicht heute sein. Dagegen was hinfällig ist und nicht gleich bleiben kann, das schaue ich an und habe nicht bloß Freude, sondern auch ein Mitleid dabei.«
»Nun ja.«
»Darum weiß ich auch nichts Feineres, als wenn irgendwo bei Nacht ein Feuerwerk angestellt wird. Da gibt es blaue und grüne Leuchtkugeln, die steigen in die Finsternis hinauf und wenn sie gerade am schönsten sind, dann machen sie einen kleinen Bogen und sind aus. Und wenn man dabei zuschaut, so hat man die Freude und auch zu gleicher Zeit die Angst: gleich ist’s wieder aus, und das gehört zueinander und ist viel schöner, als wenn es länger dauern würde. Nicht?«
»Doch, wohl. Aber das stimmt auch wieder nicht für alles.«
»Warum nicht?«
»Zum Beispiel, wenn zwei einander gern haben und heiraten, oder wenn zwei miteinander eine Freundschaft schließen, so ist das doch gerade deswegen schön, weil es für die Dauer ist und nicht gleich wieder ein Ende haben soll.«
Knulp sah mich aufmerksam an, dann blinzelte er mit seinen schwarzen Wimpern und sagte nachdenklich: »Mir ist es auch recht. Aber auch das hat doch einmal sein Ende, wie alles. Da gibt es vielerlei, was einer Freundschaft den Hals brechen kann, und einer Liebe auch.«
»Schon recht, aber daran denkt man nicht, bevor es kommt.«
»Ich weiß nicht. – Sieh, du, ich habe zweimal in meinem Leben eine Liebschaft gehabt, ich meine eine richtige, und beidemal wußte ich gewiß, daß das für immer sei und nur mit dem Tod aufhören könne, und beidemal hat es ein Ende gefunden und ich bin nicht gestorben. Auch einen Freund hab ich gehabt, daheim noch in unsrer Stadt, und hätte nicht gedacht, daß wir beide bei Lebzeiten auseinander kommen könnten. Aber wir sind doch auseinander gekommen, schon lang.«
Er schwieg, und ich wußte nichts dazu zu sagen. Das Schmerzliche, das in jedem Verhältnis zwischen Menschen ruht, war mir noch nicht zum Erlebnis geworden, und ich hatte es noch nicht erfahren, daß zwischen zwei Menschen, sie seien noch so eng verbunden, immer ein Abgrund offen bleibt, den nur die Liebe und auch die nur von Stunde zu Stunde mit einem Notsteg überbrücken kann. Ich dachte über die vorigen Worte meines Kameraden nach, von denen mir das über die Leuchtkugeln am besten gefiel, denn ich hatte das selber schon manches Mal empfunden. Die leise lockende Farbenflamme, in die Finsternis aufsteigend und allzubald darin ertrinkend, schien mir ein Sinnbild aller menschlichen Lust, die je schöner sie ist, desto weniger befriedigt und desto rascher wieder verglühen muß. Das sagte ich auch zu Knulp.
Aber er ging nicht darauf ein.
»Ja, ja,« sagte er nur. Und dann, nach einer guten Weile, mit gedämpfter Stimme: »Das Sinnen und Gedankenmachen hat keinen Wert, und man tut ja auch nicht, wie man denkt, sondern tut jeden Schritt eigentlich ganz unüberlegt so, wie das Herz gerade will. Aber das mit dem Freundsein und Verlieben ist vielleicht doch so, wie ich meine. Am Ende hat doch ein jeder Mensch das Seinige ganz für sich und kann es nicht mit anderen gemein haben. Man sieht es auch, wenn einer stirbt. Da wird geheult und getrauert, einen Tag und einen Monat und auch ein Jahr, aber dann ist der Tote tot und fort, und es könnte in seinem Sarge drin gerade so gut ein heimatloser und unbekannter Handwerksbursch liegen.«
»Du, das behagt mir aber nicht, Knulp. Wir haben doch oft geredet, daß das Leben schließlich einen Sinn haben muß und daß es einen Wert hat, wenn einer gut und freundlich statt schlecht und feindselig ist. Aber so, wie du jetzt sagst, ist eigentlich alles einerlei, und wir könnten gerade so gut stehlen und totschlagen.«