»Nein, das könnten wir nicht, mein Lieber. Schlag doch einmal die paar nächsten Leute tot, die wir treffen, wenn du’s vermagst! Oder verlang einmal von einem gelben Schmetterling, er soll blau sein. Der lacht dich aus.«
»So mein ich’s auch nicht. Aber wenn doch alles einerlei ist, dann hat es keinen Sinn, daß man gut und redlich sein will. Dann gibt es ja kein Gutsein, wenn blau so gut wie gelb und bös so gut wie gut ist. Dann ist eben jeder wie ein Tier im Wald und tut nach seiner Natur und hat weder ein Verdienst noch eine Schuld dabei.«
Knulp seufzte.
»Ja, was soll man darüber sagen! Vielleicht ist es so, wie du sagst. Dann wird man auch deswegen oft so dumm betrübt, weil man spürt, daß das Wollen keinen Wert hat, und daß alles ganz ohne uns seinen Weg geht. Aber eine Schuld gibt es deswegen doch, auch wenn einer nicht anders hat können als schlecht sein. Denn er spürt es doch in sich. Und darum muß auch das Gute das Richtige sein, weil man dabei zufrieden bleibt und sein gutes Gewissen hat.«
Ich sah es seinem Gesicht an, daß er dieser Gespräche satt war. Es ging ihm oft so, er kam ins Philosophieren hinein, stellte Sätze auf, redete für sie und wider sie und hörte plötzlich wieder auf. Früher hatte ich gemeint, er sei dann meiner unzulänglichen Antworten und Einwürfe müde. Aber es war nicht so, sondern er fühlte, daß seine Neigung zum Spekulieren ihn auf Gelände führe, wo seine Kenntnisse und Redemittel nicht ausreichten. Denn er hatte zwar recht viel gelesen, unter anderem Tolstoi, aber er konnte zwischen richtigen und Trugschlüssen nicht immer genau unterscheiden und fühlte das selber. Von den Gelehrten redete er, wie ein begabtes Kind von den Erwachsenen redet: er mußte anerkennen, daß sie mehr Macht und Mittel hatten als er, aber er verachtete sie, daß sie doch damit nichts Rechtes anfingen und mit allen ihren Künsten doch keine Rätsel lösen konnten.
Nun lag er wieder, den Kopf auf beiden Händen, starrte durch das schwarze Holunderlaub in den blauen heißen Himmel und summte ein altes Volkslied vom Rhein vor sich hin. Ich weiß noch den letzten Vers:
Nun hab ich getragen den roten Rock, Nun muß ich tragen den schwarzen Rock, Sechs, sieben Jahr, Bis daß mein Lieb verweset war.
* * * * *
Spät am Abend saßen wir am dunklen Rand eines Gehölzes einander gegenüber, jeder mit einem großen Stück Brot und einer halben Schützenwurst, aßen und sahen dem Nachtwerden zu. Vor Augenblicken noch waren die Hügel vom gelben Widerschein des Späthimmels beglänzt und in flaumig schwimmendem Lichtrauch aufgelöst gewesen, nun aber standen sie schon dunkel und scharf und malten ihre Bäume, Felderrücken und Gebüsche schwarz auf den Himmel, der noch ein wenig lichtes Tagesblau, aber schon viel mehr tiefes Nachtblau hatte.
Solange es noch licht gewesen war, hatten wir einander drollige Sachen aus einem kleinen Büchlein vorgelesen, das hieß »Musenklänge aus Deutschlands Leierkasten« und enthielt lauter dumme lustige Schundlieder mit kleinen Holzschnitten. Das hatte nun mit dem Tageslicht sein Ende gefunden. Als wir fertig gegessen hatten, wünschte Knulp Musik zu hören, und ich zog die Mundharfe aus der Tasche, die voller Brosamen war, putzte sie aus und spielte die paar oft gehörten Melodien wieder. Die Dunkelheit, in der wir schon eine Weile saßen, hatte sich vor uns nun weit in das vielfältig gewölbte Land hinein verbreitet, auch der Himmel hatte seinen bleichen Schein verloren und ließ im Schwärzerwerden langsam einen Stern um den andern hervorglühen. Die Töne unserer Harmonika flogen leicht und dünn feldeinwärts und verloren sich bald in den weiten Lüften.
»Wir können doch noch nicht gleich schlafen,« sagte ich zu Knulp. »Erzähl mir noch eine Geschichte, sie braucht nicht wahr zu sein, oder ein Märchen.«
Knulp besann sich.
»Ja,« sagte er, »eine Geschichte und auch ein Märchen, beides beieinander. Es ist nämlich ein Traum. Vorigen Herbst hat es mir so geträumt und seither zweimal ganz ähnlich, das will ich dir erzählen:
Da war eine Gasse in einem Städtlein, ähnlich wie bei mir daheim, alle Häuser streckten die Giebel auf die Gassenseite, aber sie waren höher, als man sie sonst sieht. Da ging ich hindurch, und es war, wie wenn ich nach einer langen, langen Zeit endlich wieder heimkehrte; aber ich hatte nur eine halbe Freude, denn es war nicht alles in Ordnung, und ich wußte nicht ganz sicher, ob ich nicht doch am falschen Ort und gar nicht in der Heimat sei. Manche Ecke war ganz, wie es sein sollte, und ich kannte sie sofort wieder, aber viele Häuser waren fremd und ungewohnt, auch fand ich die Brücke und den Weg zum Marktplatz nicht und kam statt dessen an einem unbekannten Garten und an einer Kirche vorbei, die war wie in Köln oder in Basel, mit zwei großen Türmen. Unsre Kirche daheim aber hat keine Türme gehabt, sondern nur einen kurzen Stumpen mit einem Notdach, weil sie früher sich verbaut haben und den Turm nicht fertig machen konnten.
So war es auch mit den Leuten. Manche, die ich von weitem sah, waren mir ganz wohlbekannt, ich wußte ihre Namen und hatte sie schon im Mund, um sie damit anzurufen. Aber die einen gingen vorher in ein Haus oder in eine Seitengasse und waren fort, und wenn einer näherkam und an mir vorbeiging, verwandelte er sich und wurde fremd; aber wenn er vorüber und wieder weiter weg war, meinte ich im Nachsehen, er sei es doch und ich müsse ihn kennen. Ich sah auch ein paar Weiber vor einem Laden beieinander stehen, und eine davon, schien mir’s, war sogar meine verstorbene Tante; aber wie ich zu ihnen gehe, kenne ich sie wieder nimmer und höre auch, daß sie eine ganz fremde Mundart reden, die ich kaum verstehen kann.
Schließlich dachte ich: Wenn ich nur wieder aus der Stadt draußen wäre, sie ist’s und ist’s doch nicht. Doch lief ich immer wieder auf ein bekanntes Haus zu oder einem bekannten Gesicht entgegen, die mich alle auch wieder für Narren hatten. Dabei wurde ich nicht zornig und verdrießlich, sondern nur traurig und voller Angst; ich wollte ein Gebet hersagen und besann mich mit aller Kraft, aber es fielen mir nichts als unnütze, dumme Redensarten ein – zum Beispiel ›Sehr geehrter Herr‹ und ›Unter den obwaltenden Umständen‹ – und die sagte ich verwirrt und traurig vor mich hin.
Das ging, schien mir, ein paar Stunden lang so weiter, bis ich ganz warm und müd war und völlig willenlos immer weiterstolperte. Es war schon Abend, und ich nahm mir vor, den nächsten Menschen nach der Herberge oder nach der Landstraße zu fragen, aber ich konnte keinen anreden, und alle gingen an mir vorbei, wie wenn ich Luft wäre. Bald hätte ich vor Müdigkeit und Verzweiflung geweint.
Da auf einmal ging es wieder um eine Ecke, und da sah ich unsere alte Gasse vor mir liegen, ein wenig gemodelt und verziert zwar, aber das störte mich jetzt nimmer viel. Ich ging darauf los und kannte ein Haus ums andere trotz der Traumschnörkel deutlich wieder, und endlich auch unser altes väterliches Haus. Es war ebenfalls übernatürlich hoch, sonst aber fast ganz wie in alten Zeiten, und die Freude und Aufregung lief mir wie ein Grausen den Rücken hinauf.
Unter dem Tor aber stand meine erste Liebste, die hat Henriette geheißen. Nur sah sie größer und etwas anders aus als früher, war aber nur noch schöner geworden. Im Näherkommen sah ich sogar, daß ihre Schönheit wie ein Wunderwerk war und ganz engelhaft erschien, doch merkte ich nun auch, daß sie hellblond war und nicht braun wie die Henriette, und doch war sie es auf und nieder, wenn auch verklärt.
›Henriette!‹ rief ich hinüber und zog den Hut ab, weil sie so fein und herrlich aussah, daß ich nicht wußte, ob sie mich noch werde kennen wollen.