Sie drehte sich ganz herum und sah mir in die Augen. Aber wie sie mir so ins Auge sieht, mußte ich mich verwundern und schämen, denn es war gar nicht die, für die ich sie angesprochen hatte, sondern es war die Lisabeth, meine zweite Liebste, mit der ich lange gegangen war.
›Lisabeth!‹ rief ich also jetzt, und streckte ihr die Hand hin.
Sie sah mich an, das ging bis ins Herz, wie wenn Gott einen anschauen würde, nicht streng und etwa hochmütig, sondern ganz ruhig und klar, aber so geistig und überlegen, daß ich mir wie ein Hund vorkam. Und sie wurde im Anschauen ernst und traurig, dann schüttelte sie den Kopf wie auf eine vorlaute Frage, nahm auch meine Hand nicht an, sondern ging ins Haus zurück und zog das Tor still hinter sich zu. Ich hörte noch das Schloß einschnappen.
Da kehrte ich um und ging fort, und obschon ich vor Tränen und Leidwesen kaum aus den Augen sah, war es doch merkwürdig, wie die Stadt sich wieder verwandelt hatte. Es war jetzt nämlich jede Gasse und jedes Haus und alles genau wie in früherer Zeit und das Unwesen ganz verschwunden. Die Giebel waren nicht mehr so hoch und hatten die alten Farben, die Leute waren es wirklich und schauten mich froh und verwundert an, wenn sie mich wieder kannten, auch riefen manche mich mit meinem Namen an. Aber ich konnte keine Antwort geben und auch nicht stehen bleiben. Statt dessen lief ich mit aller Macht den wohlbekannten Weg über die Brücke und vor die Stadt hinaus und sah alles nur aus nassen Augen vor Herzweh. Ich wußte nicht warum, mir schien nur, es sei hier für mich alles verloren und ich müsse in Schande fortlaufen.
Dann, wie ich vor der Stadt draußen unter den Pappeln war und ein wenig anhalten mußte, fiel mir’s erst ein, daß ich daheim und vor unserem Haus gewesen sei und an Vater und Mutter, Geschwister und Freunde und alles mit keinem Gedanken gedacht habe. Es war eine Verwirrung, Kümmernis und Scham in meinem Herzen wie noch niemals. Aber ich konnte nicht umkehren und alles gutmachen, denn der Traum war aus, und ich wurde wach.«
* * * * *
Knulp sagte: »Ein jeder Mensch hat seine Seele, die kann er mit keiner anderen vermischen. Zwei Menschen können zueinander gehen, sie können miteinander reden und nah beieinander sein. Aber ihre Seelen sind wie Blumen, jede an ihrem Ort angewurzelt, und keine kann zu der andern kommen, sonst müßte sie ihre Wurzel verlassen, und das kann sie eben nicht. Die Blumen schicken ihren Duft und ihren Samen aus, weil sie gern zueinander möchten; aber daß ein Same an seine rechte Stelle kommt, dazu kann die Blume nichts tun, das tut der Wind, und der kommt her und geht hin, wie und wo er will.«
Und später: »Der Traum, den ich dir erzählt habe, hat vielleicht die gleiche Bedeutung. Ich habe weder der Henriette mit Wissen unrecht getan noch der Lisabeth. Aber durch das, daß ich beide einmal liebgehabt und zu eigen habe nehmen wollen, sind sie für mich zu einer solchen Traumgestalt geworden, die beiden ähnlich sieht und doch keine ist. Die Gestalt gehört mir eigen, aber sie ist nichts Lebendiges mehr. So habe ich auch oft über meine Eltern nachdenken müssen. Die meinen, ich sei ihr Kind und ich sei wie sie. Aber wenn ich sie auch lieben muß, bin ich doch ihnen ein fremder Mensch, den sie nicht verstehen können. Und das, was die Hauptsache an mir und vielleicht gerade meine Seele ist, das finden sie nebensächlich und schreiben es meiner Jugend oder Laune zu. Dabei haben sie mich gern und täten mir gern alles Liebe. Ein Vater kann seinem Kind die Nase und die Augen und sogar den Verstand zum Erbe mitgeben, aber nicht die Seele. Die ist in jedem Menschen neu.«
Ich hatte nichts dazu zu sagen, da ich diese Gedankenwege damals noch nicht, wenigstens nicht aus eigenem Bedürfnis, gegangen war. Mir war bei diesem Spintisieren eigentlich recht wohl zumute, da es mir nicht bis ans Herz ging und ich deshalb vermutete, es werde auch für Knulp mehr ein Spiel als ein Kampf sein. Außerdem war es friedsam schön, da zu zweien im trockenen Gras zu liegen, auf die Nacht und den Schlaf zu warten und die frühen Sterne zu betrachten.
Ich sagte: »Knulp, du bist ein Denker. Du hättest sollen Professor werden.«
Er lachte und schüttelte den Kopf.
»Viel eher könnt es sein, daß ich noch einmal zur Heilsarmee ginge,« meinte er dann nachdenklich.
Das war mir zu viel. »Du,« sagte ich, »spiel mir doch nichts vor! Willst du nicht auch noch ein Heiliger werden?«
»Doch, das will ich auch. Jeder Mensch ist heilig, wenn es ihm mit seinen Gedanken und Taten wirklich Ernst ist. Wenn man etwas für recht hält, muß man es tun. Und wenn ich es einmal für das richtige halte, daß ich zur Heilsarmee gehe, dann werde ich’s hoffentlich auch tun.«
»Immer die Heilsarmee!«
»Jawohl. Ich will dir sagen, warum. Ich habe schon mit vielen Leuten gesprochen und auch viele Reden halten hören. Ich habe Pfarrer und Lehrer und Bürgermeister und Sozialdemokraten und Liberale reden hören; aber es war keiner dabei, dem es ganz bis ins Herz hinein Ernst war und dem ich zugetraut hätte, daß er im Notfall für seine Weisheit sich selber geopfert hätte. Bei der Heilsarmee aber, mit allem Musikmachen und Radau, hab ich schon drei-, viermal Leute gesehen und gehört, denen ist es Ernst gewesen.«
»Woher weißt du das denn?«
»Das sieht man schon. Der eine zum Beispiel, der hat in einem Dorf eine Rede gehalten, am Sonntag, im Freien bei einem Staub und einer Hitze, daß er bald ganz heiser war. Kräftig hat er ohnedas nicht ausgesehen. Wenn er kein Wort mehr herausbrachte, ließ er seine drei Kameraden einen Vers singen und nahm derweil einen Schluck Wasser. Das halbe Dorf ist um ihn herumgestanden, Kinder und Große, und haben ihn für Narren gehabt und kritisiert. Hinten stand ein junger Knecht, der hatte eine Peitsche und ließ von Zeit zu Zeit einen Mordsknaller los, um den Redner recht zu ärgern, und dann lachten jedesmal alle. Aber der arme Kerl ist nicht bös geworden, obwohl er gar nicht dumm war, sondern hat sich mit seinem Stimmlein in dem Spektakel durchgefochten und hat gelächelt, wo ein andrer geheult oder geflucht hätte. Weißt du, das tut einer nicht um einen Hungerlohn und um des Vergnügens willen, sondern er muß eine große Helligkeit und Gewißheit in sich haben.«
»Meinetwegen. Aber eins paßt nicht für alle. Und wer ein feiner und empfindsamer Mensch ist wie du, der tut bei dem Spektakel nicht mit.«
»Vielleicht doch. Wenn er etwas weiß und hat, was noch viel besser ist als die ganze Feinheit und Empfindsamkeit. Es paßt freilich nicht eins für alle, aber die Wahrheit, die muß für alle passen.«
»Ach Wahrheit! Woher weiß man, ob gerade die mit ihrem Halleluja die Wahrheit haben.«
»Das weiß man nicht, ganz richtig. Aber ich sage ja nur: Wenn ich einmal finde, daß das die Wahrheit ist, dann will ich ihr auch folgen.«
»Ja wenn! Aber du findest ja jeden Tag eine Weisheit, und morgen läßt du sie nimmer gelten.«
Er sah mich betroffen an.
»Da hast du etwas Schlimmes gesagt.«
Ich wollte mich entschuldigen, doch wehrte er ab und blieb still. Bald sagte er leise gut Nacht und legte sich ruhig hin, aber ich glaube nicht, daß er schon schlief. Auch ich war noch zu lebhaft und lag noch weit über eine Stunde lang mit aufgestützten Ellbogen da und schaute in das nächtliche Land hinein.
* * * * *
Am Morgen sah ich gleich, daß Knulp heute seinen guten Tag habe. Ich sagte ihm das, und er strahlte mich mit seinen kinderhaften Augen an und sagte: »Richtig geraten. Und weißt du auch, wo es herkommt, wenn einer so einen guten Tag hat?«
»Nein, woher?«