In Bulach nahm ihn sein Freund zuerst in die Wohnstube und gab ihm Milch zu trinken und Brot mit Schinken zu essen. Dabei plauderten sie und fanden langsam die Vertrautheit wieder. Dann erst nahm ihn der Arzt ins Verhör, das der Kranke gutmütig und etwas spöttisch über sich ergehen ließ.
»Weißt du eigentlich, was dir fehlt?« fragte Machold am Ende seiner Untersuchung. Er sagte es leicht und ohne Wichtigkeit, und Knulp war ihm dafür dankbar.
»Ja, ich weiß schon, Machold. Es ist die Auszehrung, und ich weiß auch, daß es nimmer lang gehen kann.«
»Na, wer weiß! Aber dann mußt du also auch einsehen, daß du in ein Bett und in eine Pflege gehörst. Einstweilen kannst du ja hier bei mir bleiben, ich sorge inzwischen für einen Platz im nächsten Spital. Es spukt bei dir, mein Lieber, und du mußt dich zusammennehmen, daß du’s noch einmal durchhaust.«
Knulp zog seinen Rock wieder an. Er wandte sein hageres und graues Gesicht mit einem Ausdruck von Schelmerei dem Doktor zu und sagte gutmütig: »Du machst dir viele Mühe, Machold. Also meinetwegen. Aber von mir darfst du nimmer viel erwarten.«
»Wir werden ja sehen. Jetzt setzest du dich in die Sonne, so lang sie noch in den Garten scheint. Die Lina macht dir das Gastbett zurecht. Wir müssen dir auf die Finger sehen, Knülplein. Daß so ein Mensch, der sein ganzes Leben in der Sonne und Luft zugebracht hat, sich dabei ausgerechnet die Lungen kaputt macht, ist eigentlich nicht in der Ordnung.«
Damit ging er weg.
Die Haushälterin Lina war nicht erfreut und wehrte sich dagegen, so einen Landstreicher ins Gastzimmer zu lassen. Aber der Doktor schnitt ihr das Wort ab.
»Lassen Sie gut sein, Lina. Der Mann hat nimmer lang zu leben, er muß es bei uns noch ein bißchen gut haben. Sauber ist er übrigens immer gewesen, und eh er zu Bett geht, stecken wir ihn ins Bad. Tun Sie ihm eins von meinen Nachthemden heraus und vielleicht meine Winterpantoffeln. Und vergessen Sie nicht: Der Mann ist ein Freund von mir.«
* * * * *
Knulp hatte elf Stunden geschlafen und den nebligen Morgen im Bett verdämmert, wo er sich erst allmählich darauf besinnen konnte, bei wem er sei. Als die Sonne herausgekommen war, hatte Machold ihm das Aufstehen erlaubt, und nun saßen sie beide nach Tisch bei einem Glas Rotwein auf der sonnigen Altane. Knulp war vom guten Essen und von seinem halben Glas Wein munter und gesprächig geworden, und der Doktor hatte sich für eine Stunde frei gemacht, um noch einmal mit dem seltsamen Schulkameraden zu plaudern und vielleicht etwas über dieses nicht gewöhnliche Menschenleben zu erfahren.
»Du bist also zufrieden mit dem Leben, das du gehabt hast?« sagte er lächelnd. »Dann ist ja alles gut. Sonst hätte ich aber doch gesagt, es ist eigentlich schad um so einen Kerl wie dich. Du hättest ja kein Pfarrer oder Lehrer zu werden brauchen, vielleicht aber wäre ein Naturforscher oder auch etwa ein Dichter aus dir geworden. Ich weiß nicht, ob du deine Gaben benutzt und weiter gebildet hast, aber du hast sie für dich allein verbraucht. Oder nicht?«
Knulp stützte das Kinn mit dem dünnen Bärtchen in die hohle Hand und sah auf die roten Lichter, die hinterm Weinglas auf dem besonnten Tischtuch spielten.
»Es stimmt nicht ganz,« sagte er langsam. »Die Gaben, wie du es nennst, damit ist es nicht so weit her. Ich kann ein bißchen kunstpfeifen, auch Handorgel spielen und manchmal Verslein machen, früher bin ich auch ein guter Läufer gewesen und habe nicht schlecht getanzt. Das ist alles. Und daran habe ich ja nicht allein Freude gehabt, es waren meistens Kameraden dabei, oder junge Mädel oder Kinder, die haben ihren Spaß daran gehabt und sind mir manchmal dafür dankbar gewesen. Wir wollen es gut sein lassen und damit zufrieden sein.«
»Ja,« sagte der Doktor, »das wollen wir. Aber eins muß ich dich noch fragen. Du bist damals bis in die fünfte Klasse mit mir in die Lateinschule gegangen, ich weiß es noch genau, und bist ein guter Schüler gewesen, wenn auch kein Musterbub. Und dann auf einmal warst du weg, und es hieß, du gehest jetzt in die Volksschule, und da waren wir auseinander, ich durfte ja als Lateiner nicht mit einem Freund sein, der in die Volksschule ging. Wie ist nun das zugegangen? Später, wenn ich von dir hörte, habe ich immer gedacht: Wenn er damals bei uns in der Schule geblieben wäre, hätte alles anders kommen müssen. Also, wie war’s damit? War es dir verleidet, oder hat dein Alter das Schulgeld nimmer zahlen mögen, oder was sonst?«
Der Kranke nahm sein Glas in die braune, magere Hand, doch trank er nicht, er blickte nur durch den Wein gegen das grüne Gartenlicht und stellte dann den Kelch vorsichtig auf den Tisch zurück. Schweigend schloß er dann die Augen und versank in Gedanken.
»Ist es dir zuwider, davon zu reden?« fragte sein Freund. »Es muß ja nicht sein.«
Da tat Knulp die Augen auf und sah ihm lange und prüfend ins Gesicht.
»Doch,« sagte er, noch zögernd, »ich glaube, es muß sein. Ich habe das nämlich noch nie einem Menschen erzählt. Aber jetzt ist es vielleicht ganz gut, wenn jemand es hört. Es ist ja bloß eine Kindergeschichte, aber für mich ist sie doch wichtig gewesen, es hat mir jahrelang zu schaffen gemacht. Sonderbar, daß du gerade danach fragst!«
»Warum?«
»Ich habe die letzte Zeit wieder viel daran denken müssen, und deswegen bin ich auch wieder auf dem Weg nach Gerbersau.«
»Ja, dann erzähle.«
»Siehst du, Machold, wir sind ja damals gute Freunde gewesen, wenigstens bis in die dritte oder vierte Klasse. Nachher kamen wir weniger zusammen, und du hast manchmal vergebens vor unserem Haus gepfiffen.«
»Herrgott, ja, das stimmt! Daran habe ich seit mehr als zwanzig Jahren nimmer gedacht. Mensch, was hast du für ein Gedächtnis! Und weiter?«
»Ich kann dir jetzt sagen, wie das gegangen ist. Die Mädchen waren daran schuld. Ich bin ziemlich früh auf sie neugierig geworden, und du hast noch an den Storch und an den Kindlesbrunnen geglaubt, da wußte ich schon so ziemlich, wie es mit Buben und Mädeln beschaffen ist. Das war mir damals die Hauptsache, darum bin ich nimmer viel bei eurem Indianerspiel dabei gewesen.«
»Da warst du zwölf Jahr alt, nicht?«
»Fast dreizehn, ich bin ein Jahr älter als du. Wie ich einmal krank war und im Bett lag, da hatten wir eine Base zum Besuch da, die war drei oder vier Jahr älter als ich, und die fing an mit mir zu spielen, und als ich wieder gesund und auf war, bin ich einmal nachts zu ihr in die Stube gegangen. Da wurde mir bekannt, wie ein Frauenzimmer aussieht, und ich war elend erschrocken und bin davongelaufen. Mit der Base wollte ich jetzt kein Wort mehr reden, sie war mir verleidet, und ich hatte Angst vor ihr, aber die Sache war mir halt einmal im Kopf, und von da an bin ich eine Zeitlang bloß den Mädchen nachgegangen. Beim Rotgerber Haasis waren zwei Töchter in meinem Alter, und da kamen auch andere Mädchen aus der Nachbarschaft hin, wir spielten auf den dunkeln Böden Verstecken und hatten immer viel zu kichern und zu kitzeln und geheim zu tun. Ich war meistens der einzige Bub in dieser Gesellschaft, und manchmal durfte ich einer von ihnen die Zöpfe flechten oder eine gab mir einen Kuß, wir waren alle noch unerwachsen und wußten nicht recht Bescheid, aber es war alles voll von Verliebtheit, und beim Baden versteckte ich mich in die Büsche und sah ihnen zu. –– Und eines Tages war eine Neue da, eine aus der Vorstadt, ihr Vater war Arbeiter in der Strickerei. Sie hat Franziska geheißen, und sie hat mir gleich beim erstenmal gut gefallen.«