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Der Doktor unterbrach ihn. »Wie hat ihr Vater geheißen? Vielleicht kenn ich sie.«

»Verzeih, ich möcht dir das lieber nicht sagen, Machold. Es gehört nicht zur Geschichte, und ich will auch nicht, daß jemand das von ihr weiß. – Nun also! Sie ist größer und stärker gewesen als ich, wir haben hie und da miteinander gehändelt und gerauft, und wenn sie mich dann an sich drückte, bis es mir weh tat, dann war mir schwindlig und wohl wie in einem Rausch. In die wurde ich verliebt, und weil sie zwei Jahre älter war und schon davon redete, daß sie jetzt bald einen Schatz haben wolle, da wurde es mein einziger Wunsch, der möchte ich sein. –– Einmal saß sie allein im Lohgarten am Fluß und hatte die Füße ins Wasser hängen, sie hatte gebadet und bloß das Leibchen an. Da kam ich und setzte mich zu ihr. Auf einmal bekam ich Mut und sagte ihr, ich wolle und müsse ihr Schatz werden. Aber sie sah mich mit den braunen Augen mitleidig an und sagte: »Du bist ja noch ein Büble und hast kurze Hosen an, was weißt denn du von Schatz und Liebhaben?« Doch, sagte ich, ich wisse alles, und wenn sie nicht mein Schatz werden möge, dann werfe ich sie ins Wasser und mich mit. Da schaute sie mich aufmerksam an, mit einem Blick wie eine Frau, und sagte: ›Wir wollen einmal sehen. Kannst du denn schon küssen?‹ Ich sagte ja und gab ihr schnell einen Kuß auf den Mund und dachte, damit wäre es gut, aber sie hatte meinen Kopf gepackt und hielt ihn fest und küßte mich jetzt richtig wie ein Weib, daß mir Hören und Sehen verging. Dann lachte sie mit ihrer tiefen Stimme und sagte: ›Du würdest mir schon passen, Bub. Aber es geht doch nicht. Ich kann keinen Schatz brauchen, der in die Lateinschule geht, das gibt keine rechten Leute. Ich muß einen richtigen Mann zum Schatz haben, einen Handwerker oder einen Arbeiter, keinen Studierten. Es ist also nichts damit.‹ Sie hatte mich aber auf ihren Schoß gezogen und war in ihrer festen Wärme so schön und gut in den Armen zu halten, daß ich gar nicht daran denken konnte, von ihr zu lassen. Also habe ich der Franziska versprochen, ich wolle nimmer in die Lateinschule gehen und ein Handwerker werden. Sie lachte nur, aber ich ließ nicht nach, und zuletzt küßte sie mich wieder und versprach mir, wenn ich kein Lateinschüler mehr sei, dann wolle sie mein Schatz sein, und ich solle es gut bei ihr haben.«

Knulp hielt inne und hustete eine Weile. Sein Freund sah aufmerksam herüber, beide schwiegen eine kleine Zeit. Dann fuhr er fort: »Also, jetzt weißt du die Geschichte. Es ist natürlich nicht so geschwind gegangen, wie ich gemeint hatte. Mein Vater gab mir ein paar Ohrfeigen, als ich ihm mitteilte, ich wolle und könne jetzt nimmer in die Lateinschule gehen. Ich wußte nicht gleich Rat; oft habe ich mir vorgenommen, ich wolle unsere Schule anzünden. Das waren Kindergedanken, aber mit der Hauptsache ist es mir Ernst gewesen. Schließlich fiel mir der einzige Ausweg ein. Ich tat einfach in der Schule nimmer gut. Weißt du’s nimmer?«

»Wahrhaftig, es dämmert mir wieder. Du hast eine Zeitlang fast jeden Tag Arrest gehabt.«

»Ja. Ich habe Stunden geschwänzt und schlechte Antworten gegeben, ich habe die Aufgaben nimmer gemacht und meine Schulhefte verloren, es war jeden Tag etwas los, und schließlich bekam ich Freude dran und habe jedenfalls den Lehrern damals das Leben nicht leicht gemacht. Das Latein und das Zeug alles war mir sowieso jetzt nimmer extra wichtig. Du weißt, ich hab immer eine gute Nase gehabt, und wenn ich hinter etwas Neuem her war, dann gab’s eine Weile nichts anderes für mich auf der Welt. So war mir’s mit dem Turnen gegangen, und dann mit dem Forellenfangen, und mit der Botanik. Und gerade so hatte ich’s halt damals mit den Mädchen, und eh ich da die Hörner abgelaufen und meine Erfahrung gewonnen hatte, war mir nichts andres wichtig. Es ist ja auch blöd, so als Schulbub in der Bank zu hocken und Konjugationen zu üben, wenn man heimlich mit allen Sinnen doch nur bei dem ist, was man gestern abend beim Baden von den Mädchen ausspioniert hat. – Na, #item#! Die Lehrer merkten das vielleicht, sie hatten mich im ganzen gern und schonten mich solang wie möglich, und es wäre nichts aus meinen Absichten geworden, aber ich fing jetzt eine Freundschaft mit dem Bruder der Franziska an. Er ging in die Volksschule, in die letzte Klasse, und war ein schlechter Kerl; ich habe viel von ihm gelernt, aber nichts Gutes, und habe viel von ihm zu leiden gehabt. In einem halben Jahr war mein Ziel endlich erreicht, mein Vater hat mich halbtot geschlagen, aber ich war aus eurer Schule ausgewiesen und saß jetzt in der gleichen Volksschulstube wie der Bruder der Franziska.«

»Und sie? Das Mädel?« fragte Machold.

»Ja, das war eben der Jammer. Sie ist doch nicht mein Schatz geworden. Seit ich manchmal mit ihrem Bruder heimkam, wurde ich schlechter von ihr behandelt, wie wenn ich jetzt weniger wäre als früher, und erst als ich schon zwei Monate in der Volksschule saß und mir angewöhnte, öfter am Abend mich aus dem Haus zu stehlen, da wurde mir die Wahrheit bekannt. Ich streunte eines Abends spät im Rieder Wald herum, und wie ich’s schon mehrmals getan hatte, behorchte ich ein Liebespaar auf einer Bank, und als ich schließlich mich näher drückte, da war es die Franziska mit einem Mechanikergesellen. Sie haben gar nicht auf mich geachtet, er hatte den Arm um ihren Hals gelegt und in der Hand eine Zigarette, und ihre Bluse stand offen, und kurz, es war scheußlich. Da war also alles vergebens gewesen.«

Machold klopfte seinem Freund auf die Schulter.

»Na, vielleicht war’s für dich doch das Beste.«

Aber Knulp schüttelte energisch den scharfen Kopf.

»Nein, gar nicht. Ich möchte heut noch meine rechte Hand drum geben, wenn das anders gegangen wäre. Sag mir nichts über die Franziska, ich lasse nichts auf sie kommen. Und wenn es richtig gegangen wäre, dann hätte ich die Liebe auf eine schöne und glückliche Art kennen gelernt, und vielleicht hätte mir das geholfen, daß ich auch mit der Volksschule und mit meinem Vater im guten zurecht gekommen wäre. Denn – wie soll ich’s sagen? – schau, seither habe ich manche Freunde und Bekannte und Kameraden und auch Liebschaften gehabt; aber ich habe nie mehr mich auf das Wort eines Menschen verlassen oder mich selber durch ein Wort gebunden. Niemals mehr. Ich habe mein Leben gehabt, wie es mir paßte, und es hat mir nicht an Freiheit und an Schönem gefehlt, aber ich bin doch immer allein geblieben.«

Er griff nach dem Glase, sog mit Sorgfalt den letzten kleinen Schluck Wein und stand auf.

»Wenn du erlaubst, leg ich mich wieder hin, ich mag nimmer davon reden. Du hast gewiß auch noch zu tun.«

Der Doktor nickte.

»Noch etwas, du! Ich will heut um einen Platz im Spital für dich schreiben. Es paßt dir vielleicht nicht, aber da ist nichts zu ändern. Du gehst kaputt, wenn du nicht schnell in eine Pflege kommst.«

»Ach was,« rief Knulp mit ungewohnter Heftigkeit, »so laß mich halt kaputt gehen! Es nützt ja doch nichts mehr, das weißt du selber. Warum soll ich mich jetzt noch einsperren lassen?«

»Nicht so, Knulp, sei doch vernünftig! Ich wäre ein miserabler Doktor, wenn ich dich so herumlaufen ließe. In Oberstetten fänden wir sicher Platz für dich, und du kriegst extra einen Brief von mir mit, und nach acht Tagen komm ich selber einmal und seh nach dir. Ich verspreche dir’s.«

Der Landstreicher sank auf seinen Sitz zurück, es schien fast, als wäre er nahe am Weinen, und rieb seine dünnen Hände ineinander wie ein Frierender. Dann sah er dem Doktor flehentlich und kindlich in die Augen.