»Ja, jetzt weiß ich,« lachte er kurz. »Du bist also der Knulp. Man wird halt älter, wenn man sich so lang nicht sieht. Was willst du in Bulach? Auf einen Zehner und auf ein Glas Most soll’s mir nicht ankommen.«
»Das ist recht von dir, Schmied, und ich nehm’s für genossen an. Aber ich will was anderes. Du könntest mir dein Rasiermesser für eine Viertelstunde leihen, ich will heut abend zum Tanzen gehen.«
Der Meister drohte ihm mit dem Zeigefinger.
»Du bist doch ein Lugenbeutel, ein alter. Ich meine, mit dem Tanzen wirst du’s nimmer wichtig haben, so wie du aussiehst.«
Knulp kicherte vergnügt.
»Du merkst doch alles! Schad, daß du kein Amtmann geworden bist. Ja, ich muß also morgen ins Spital, der Machold schickt mich hin, und da wirst du begreifen, daß ich nicht so wie ein Zottelbär antreten mag. Gib mir das Messer, in einer halben Stunde hast du’s wieder.«
»So? Und wo willst du denn hin damit?«
»Zum Doktor hinüber, ich schlafe bei ihm. Gelt, du gibst mir’s?«
Das schien dem Schmied nicht sehr glaubwürdig.
Er blieb mißtrauisch.
»Ich geb dir’s schon. Aber weißt du, es ist kein so gewöhnliches Messer, es ist eine echte Solinger Hohlklinge. Die möcht ich gern wiedersehen.«
»Verlaß dich drauf.«
»Ja, schon. Du hast da einen guten Rock an, Freundlein. Den brauchst du zum Rasieren nicht. Ich will dir was sagen: Zieh ihn aus und laß ihn da, und wenn du mit dem Messer wiederkommst, kriegst du auch den Rock wieder.«
Der Landstreicher verzog das Gesicht.
»Also gut. Extra nobel bist du nicht, Schmied. Aber es soll meinetwegen gelten.«
Nun holte der Schmied das Messer, Knulp gab den Rock zum Pfande, duldete aber nicht, daß der rußige Schmied ihn anfasse. Und nach einer halben Stunde kam er wieder und gab das Solinger Messer zurück, und sein struppiges Kinnbärtchen war weg, er sah ganz anders aus.
»Jetzt noch ein Nägelein hinters Ohr, dann kannst du weiben gehen,« sagte der Schmied voll Anerkennung.
Aber Knulp war nicht mehr zu Scherzen gelaunt, er zog seinen Rock wieder an, sagte kurzen Dank und ging davon.
Auf dem Heimweg traf er vor dem Hause den Doktor, der ihn verwundert anhielt.
»Wo läufst denn du herum? Ja, und wie siehst du aus! – Aha, rasiert! Mensch, du bist doch ein Kindskopf!«
Aber es gefiel ihm, und Knulp bekam diesen Abend wieder einen Rotwein zu trinken. Die beiden Schulkameraden feierten Abschied, und jeder war so aufgeräumt wie möglich, und keiner wollte sich etwas wie eine Beklemmung anmerken lassen.
Zeitig am Morgen kam der Knecht des Schulzen mit dem Wagen vorgefahren, auf dem in Lattenverschlägen zwei Kälber standen, mit den Knien zitterten und grell in den kalten Morgen starrten. Es lag zum erstenmal Reif auf den Wiesen. Knulp wurde zu dem Knecht auf den Bock gesetzt und bekam eine Decke über die Knie, der Doktor drückte ihm die Hand und schenkte dem Knecht eine halbe Mark; der Wagen rasselte weg und dem Wald entgegen, während der Knecht seine Pfeife anzündete und Knulp mit verschlafenen Augen in die hellblaue Morgenkühle blinzelte.
Aber später kam die Sonne, und der Mittag wurde ganz warm. Die zwei auf dem Bock unterhielten sich ausgezeichnet, und als sie in Gerbersau ankamen, wollte der Knecht durchaus samt seinem Wagen und den Kälbern den Umweg machen und am Krankenhaus vorfahren. Indessen hatte Knulp ihm das bald ausgeredet, und sie trennten sich freundschaftlich vor der Einfahrt in die Stadt. Da blieb Knulp stehen und sah dem Wagen nach, bis er unter den Ahornen beim Viehmarkt verschwand.
Er lächelte und schlug einen Heckenpfad zwischen den Gärten ein, den nur Einheimische kannten. Er war wieder frei! Im Spital mochten sie warten.
* * * * *
Noch einmal kostete der Heimgekehrte das Licht und den Duft, die Geräusche und Gerüche der Heimat und die ganze erregende und sättigende Vertrautheit des Daheimseins: Gewühl der Bauern und Bürger auf dem Viehmarkt, durchsonnte Schatten brauner Kastanienbäume, Trauerflug später dunkler Herbstfalter an der Stadtmauer, Klang des vierstrahligen Marktbrunnens, Weingeruch und hohles hölzernes Gehämmer aus der gewölbten Kellereinfahrt des Küfermeisters, wohlbekannte Gassennamen, jeder dicht behängt von einem unruhigen Schwarm von Erinnerungen. Mit allen Sinnen schlürfte der Heimatlose den vielfältigen Zauber des Zuhauseseins, des Kennens, des Wissens, des Sicherinnerns, der Kameradschaft mit jeder Straßenecke und jedem Prellstein. Schlendernd und unermüdet war er den ganzen Nachmittag in allen Gassen unterwegs, belauschte den Messerschleifer am Fluß, sah dem Drechsler durchs Fenster seiner Werkstatt zu, las auf neugemalten Schildern die alten Namen wohlbekannter Familien. Er tauchte die Hand in den steinernen Trog des Marktbrunnens, seinen Durst aber löschte er erst unten am kleinen Abtsbrünnlein, das noch immer geheimnisvoll wie vor all den verflossenen Jahren im Erdgeschoß eines uralten Hauses entsprang und in der seltsam klaren Dämmerung seiner Quellstube zwischen den Steinplatten rauschte. Am Flusse stand er lange und lehnte an der hölzernen Brüstung überm ziehenden Wasser, worin das dunkle Seegras langhaarig wallte und die schmalen Rücken der Fische schwarz und stille über den zitternden Kieseln standen. Er ging über den alten Steg und ließ sich in der Mitte in die Kniekehlen sinken, um wie als Knabe den feinen, lebendig elastischen Gegenschwung des Brückleins in sich zu spüren.
Ohne Eile spazierte er weiter und vergaß nichts, nicht die Kirchenlinde mit dem kleinen Rasenstück und nicht das Wehr der oberen Mühle, seinen einstigen Lieblingsbadeplatz. Er blieb vor dem Häuschen stehen, in dem vor Zeiten sein Vater gewohnt hatte, und lehnte sich eine kleine Weile zärtlich mit dem Rücken an die alte Haustür, suchte auch den Garten auf und sah über einen lieblos neuen Drahtzaun weg in eine neu angelegte Pflanzung hinein – aber die vom Regenwasser abgerundeten Steinstufen und der runde, feiste Quittenbaum neben der Tür waren noch die alten. Hier hatte Knulp seine besten Tage gehabt, noch ehe er sich aus der Lateinschule hatte wegjagen lassen, hier hatte er einst ein volles Glück, Erfüllungen ohne Rest, Seligkeiten ohne Bitternisse gekostet, diebesselige Kirschensommer, versunkenes flüchtiges Gärtnerglück im Belauschen und Pflegen seiner Blumen: geliebter Goldlack, lustige Winde, zärtlich samtenes Stiefmütterchen, und Kaninchenställe und Werkstatt und Drachenbau, Wasserleitungen aus dem Markrohr des Holunders und Mühlräder aus Fadenrollen mit Schaufeln aus Schindelstücken. Kein Dach, dessen Katzen er nicht gekannt, kein Garten, dessen Früchte er nicht versucht, kein Baum, den er nicht bestiegen, in dessen Krone er nicht ein grünes Traumnest besessen hatte. Dieses Stück Welt hatte ihm gehört, war von ihm in tiefster Vertrautheit gekannt und geliebt worden; hier hatte jeder Strauch und jeder Gartenhag Bedeutung, Sinn, Geschichten für ihn gehabt, jeder Regen– und Schneefall zu ihm gesprochen, hier hatte Luft und Erde in seinen Träumen und Wünschen gelebt, sie erwidert und ihr Leben mitgeatmet. Und heute noch, dachte Knulp, war vielleicht hier ringsum kein Hausbewohner und kein Gartenbesitzer, dem dies alles mehr angehört hätte als ihm, dem es mehr wert war, mehr sagte, mehr Antwort gab, mehr Erinnerungen weckte.
Zwischen nahen Dächern stach hoch und spitzig der graue Giebel eines schmächtigen Hauses empor. Dort hatte vor Zeiten der Rotgerber Haasis gewohnt, und dort hatten Knulps Kinderspiele und Knabenwonnen ihr Ende gefunden in den ersten Heimlichkeiten und zärtlichen Händeln mit Mädchen. Von dort war er manchen Abend über die dämmernde Gasse heimgekehrt mit keimenden Ahnungen der Liebeslust, dort hatte er den Gerberstöchtern die Zöpfe aufgelöst und unter den Küssen der schönen Franziska getaumelt. Er wollte hinübergehen, später am Abend, oder vielleicht morgen. Jetzt aber lockten diese Erinnerungen ihn wenig, er hätte sie alle zusammen gerne hingegeben für das Gedächtnis einer einzigen Stunde der früheren, der Knabenzeit.