Eine Stunde und länger verweilte er am Gartenzaun und schaute hinunter, und was er sah, war nicht der neue, fremde Garten, der dalag und mit dem jungen Beerengesträuch schon ganz leer und herbstlich aussah. Er sah den Garten seines Vaters, und seine Kinderblumen im kleinen Beet, am Ostersonntag gepflanzte Aurikeln und glasige Balsaminen, und kleine Gebirge aus Steinchen, auf welchen er hundertmal gefangene Eidechsen ausgesetzt hatte, unglücklich, daß keine dort bleiben und wohnen und sein Haustier sein wollte, und dennoch immer wieder voll Erwartung und Hoffnung, wenn er eine neue mitbrachte. Alle Häuser und Gärten, alle Blumen und Eidechsen und Vögel der Welt konnte man ihm heute schenken, und es wäre nichts gegen den zaubervollen Glanz einer einzigen Sommerblume, wie sie damals in seinem Gärtchen wuchs und die köstlichen Blumenblätter leise aus der Knospe rollte. Und die Johannisbeerbüsche von damals, deren jeden er noch genau im Gedächtnis hatte! Sie waren fort, sie waren nicht ewig und unzerstörbar gewesen, irgendein Mann hatte sie ausgerissen und ausgegraben und ein Feuer draus gemacht, Holz und Wurzeln und welke Blätter waren miteinander verbrannt, und niemand hatte darum geklagt.
Ja, hier hatte er oft den Machold bei sich gehabt. Der war jetzt ein Doktor und Herr und fuhr im Einspänner bei den kranken Leuten herum, und er war wohl auch ein guter und aufrichtiger Mensch geblieben; aber auch er, auch dieser kluge und stramme Mann, was war er gegen damals, gegen den gläubigen, scheuen, erwartungsvoll zärtlichen Knaben von damals? Hier hatte ihm Knulp gezeigt, wie man Käfige für Fliegen baut und Schindeltürme für Heuschrecken, und er war Macholds Lehrer und sein größerer, klügerer, bewunderter Freund gewesen.
Der nachbarliche Fliederbaum war alt und moosig dürr geworden, und das Lattenhaus im andern Garten war zerfallen, und man mochte an seine Stelle bauen, was man wollte, es wurde nie mehr so schön und beglückend und richtig, wie alles einmal gewesen war.
Es begann zu dämmern und kühl zu werden, als Knulp den vergrasten Gartenweg verließ. Vom neuen Kirchturm, der das Bild der Stadt veränderte, rief eine neue Glocke laut herüber.
Er schlich durchs Tor der Rotgerberei in den Gerbergarten, es war Feierabend und niemand zu sehen. Unhörbar schritt er über den weichen Lohboden an den gähnenden Löchern vorüber, wo die Häute in der Lauge lagen, und bis zum Mäuerchen, wo der Fluß schon dunkel an den moosig grünen Steinen hintrieb. Da war der Ort, an dem er einmal eine Abendstunde mit Franziska gesessen war, die bloßen Füße im Wasser plätschernd.
Und wenn sie mich nicht vergebens hätte warten lassen, dachte Knulp, dann wäre alles anders gekommen. Wenn auch die Lateinschule und das Studieren versäumt war, ich hätte Kraft und Willen genug gehabt, um doch etwas zu werden. Wie einfach und klar war das Leben! Damals hatte er sich weggeworfen und von allem nichts mehr wissen wollen, und das Leben war darauf eingegangen und hatte nichts von ihm verlangt. Er war außerhalb gestanden, ein Bummler und Zaungast, beliebt in den guten jungen Jahren und allein im Kranksein und Altern.
Es ergriff ihn eine große Müdigkeit, er setzte sich auf dem Mäuerchen nieder, und der Fluß rauschte dunkel in seine Gedanken. Da wurde über ihm ein Fenster hell, das mahnte ihn, es sei spät, und man dürfe ihn hier nicht finden. Er schlüpfte lautlos aus dem Lohgarten und aus dem Tor, knöpfte den Rock zu und dachte ans Schlafen. Er hatte Geld, der Doktor hatte ihn beschenkt, und nach kurzem Besinnen verschwand er in einer Herberge. Er hätte in den »Engel« oder »Schwanen« gehen können, wo man ihn kannte und wo er Freunde gefunden hätte. Aber daran war ihm jetzt nicht gelegen.
* * * * *
Vieles hatte sich im Städtchen verändert, was ihn früher bis ins kleinste interessiert hätte, aber diesmal wollte er nichts sehen und wissen, als was zur alten Zeit gehörte. Und als er nach kurzem Fragen erfuhr, daß die Franziska nicht mehr lebe, da verblaßte alles, und ihm schien, er sei einzig ihretwegen hergekommen. Nein, es hatte keinen Sinn, hier in den Gassen und zwischen den Gärten herumzustrolchen und sich von denen, die ihn kannten, halb mitleidige Späße zurufen zu lassen. Und als er zufällig in dem engen Postgäßlein dem Oberamtsarzt begegnete, fiel ihm plötzlich ein, man könnte ihn am Ende droben im Krankenhaus vermissen und nach ihm fahnden. Alsbald kaufte er bei einem Bäcker zwei Wecken, stopfte sie in seine Rocktaschen und stieg noch vor Mittag zur Stadt hinaus eine steile Bergstraße hinan.
Da saß hoch oben am Waldrande, an der letzten großen Straßenbiegung, ein staubiger Mann auf einem Steinhaufen und klopfte mit einem langstieligen Hammer den graublauen Muschelkalk in Stücke.
Knulp sah ihn an, grüßte und blieb stehen.
»Grüß Gott,« sagte der Mann und klopfte weiter, ohne den Kopf zu heben.
»Ich meine, das Wetter bleibt nimmer lang,« probierte Knulp.
»Kann schon sein,« brummte der Steinklopfer und sah einen Augenblick empor, vom Mittagslicht auf der hellen Straße geblendet. »Wo wollet Ihr hinaus?«
»Nach Rom zum Papst,« sagte Knulp. »Ist’s wohl noch weit?«
»Heut kommet Ihr nimmer hin. Wenn Ihr überall stehen bleiben müsset und die Leute in der Arbeit stören, dann erlaufet Ihr’s in keinem Jahr.«
»So, meinet Ihr? Na, eilig hab ich’s nicht, Gott sei Dank. Ihr seid ein fleißiger Mann, Herr Andres Schaible.«
Der Steinklopfer hielt die Hand über die Augen und musterte den Wanderer.
»Ihr kennt mich also,« sagte er bedächtig, »und ich kenn Euch auch, will mir scheinen. Bloß auf den Namen muß ich noch kommen.«
»Da müsset Ihr den alten Krabbenwirt fragen, wo wir Anno neunzig allemal unseren Sitz gehabt haben. Aber er wird nimmer leben.«
»Schon lang nimmer. Aber jetzt tagt mir’s, alter Kunde. Du bist der Knulp. Setz dich ein bißchen her, und grüß Gott auch!«
Knulp setzte sich, er war zu rasch gestiegen und atmete mit Beschwerden; er sah erst jetzt, wie schön in der Tiefe das Städtchen lag, blaublanker Fluß, rotbraunes Dächergewimmel und kleine grüne Bauminseln dazwischen.
»Du hast es nett hier droben,« sagte er aufatmend.
»Es geht so, ich kann nicht klagen. Und du? Früher ist’s leichter den Berg rauf gegangen, gelt? Du schnaufst ja heillos, Knulp. Hast wieder einmal die Heimat besucht?«
»Jawohl, Schaible, es wird das letztemal sein.«
»Und warum denn?«
»Weil halt die Lunge kaputt ist. Weißt du nix dagegen?«
»Daheim geblieben wenn du wärst, mein Lieber, und hättest brav geschafft, und hättest Weib und Kinder und jeden Abend dein Bett, dann wär’s vielleicht anders mit dir. Na, darüber weißt du meine Meinung von früher her. Da kann man jetzt nichts machen. Ist’s denn so schlimm?«
»Ach, ich weiß nicht. – Oder doch, ich weiß schon. Es geht halt den Berg hinunter, und jeden Tag ein bißchen schneller. Da ist’s dann wieder ganz gut, wenn man für sich allein ist und niemand zur Last fällt.«
»Wie man’s nimmt; das ist deine Sache. Es tut mir aber leid.«
»Ist nicht nötig. Gestorben muß einmal sein, es kommt sogar an die Steinklopfer. Ja, alter Kunde, da sitzen jetzt wir zwei und können uns beide nicht viel einbilden. Du hast ja auch einmal andere Gedanken im Kopf gehabt. Hast du nicht damals zur Eisenbahn gewollt?«