»Ach, das sind alte Geschichten.«
»Und deine Kinder sind gesund?«
»Ich weiß nichts andres. Der Jakob verdient jetzt schon.«
»So? Ha, die Zeit vergeht. Ich will, glaub ich, jetzt auch ein wenig weiter.«
»Es pressiert nicht so. Wenn man sich so lang nimmer gesehen hat! Sag, Knulp, kann ich dir mit etwas helfen? Viel hab ich nicht bei mir, es wird eine halbe Mark sein.«
»Die kannst du selber brauchen, Alterle. Nein, danke schön.«
Er wollte noch etwas sagen, aber es wurde ihm elend ums Herz, und er schwieg, und der Steinklopfer gab ihm aus seiner Mostflasche zu trinken. Sie blickten eine Weile auf die Stadt hinunter, ein Sonnenspiegel im Mühlkanal blitzte kräftig herauf, über die Steinbrücke fuhr langsam ein Lastwagen, und unterm Wehr schwamm lässig ein weißes Gänsegeschwader.
»Jetzt hab ich ausgeruht und muß weiter,« fing Knulp wieder an.
Der Steinklopfer saß in Gedanken und schüttelte den Kopf.
»Hör, du, du hättest mehr werden können als so ein armer Teufel von Pennbruder,« sagte er langsam. »Es ist doch sündenschad um dich. Weißt du, Knulp, ich bin gewiß kein Stündeler, aber ich glaube halt doch, was in der Bibel steht. Du mußt auch daran denken. Du wirst dich verantworten müssen, es wird nicht so leicht gehn. Du hast Gaben gehabt, bessere als ein anderer, und es ist doch nichts aus dir geworden. Du darfst mir’s nicht zürnen, wenn ich das sage.«
Jetzt lächelte Knulp, und ein Schimmer von der alten harmlosen Schelmerei stand in seinen Augen. Er klopfte seinem Kameraden freundlich auf den Arm und stand auf.
»Wir werden ja sehen, Schaible. Der liebe Gott fragt mich vielleicht gar nicht: Warum bist du nicht Amtsrichter geworden? Vielleicht sagt er auch bloß: Bist wieder da, du Kindskopf? und gibt mir droben eine leichte Arbeit, Kinderhüten oder so.«
Andres Schaible zuckte die Achseln unter dem blau und weiß gewürfelten Hemde.
»Mit dir kann man nicht im Ernst reden. Du meinst, wenn der Knulp kommt, da wird der Herrgott nichts als Späße machen.«
»Ach nein. Aber es könnte doch sein, nicht?«
»Red nicht so!«
»Ja, dann will ich dem lieben Gott sagen, er solle halt einmal den Schaible fragen, der kenne mich gut. Was sagst du ihm dann?«
»Nee, mich braucht der Herrgott gewiß nicht dazu. Aber ich täte sagen: Der Knulp hat sein Leben lang nichts als Kindereien getrieben, aber ich glaube, er ist halt doch ein guter und anständiger Kerl gewesen.«
Sie gaben sich die Hände, und dabei steckte der Steinklopfer ihm ein kleines Geldstück zu, das er verstohlen aus seiner Hosentasche gegraben hatte. Und Knulp nahm es an und wehrte sich nimmer, um dem anderen nicht seine Freude zu verderben.
Er warf noch einen Blick in das alte heimatliche Tal, nickte noch einmal zu Andres Schaible zurück, dann begann er zu husten und machte schnellere Schritte, und war alsbald um die obere Waldecke verschwunden.
* * * * *
Vierzehn Tage später, nachdem es auf nebelkalte Tage noch sonnige mit späten Glockenblumen und kühlreifen Brombeeren gegeben hatte, brach plötzlich der Winter herein. Es gab strengen Frost und darauf am dritten Tage bei milderer Luft einen schweren, hastigen Schneefall.
Knulp war diese ganze Zeit unterwegs gewesen, auf zielloser Streife immer im Umkreis der Heimat, und noch zweimal hatte er aus nächster Nähe, im Walde verborgen, den Steinklopfer Schaible gesehen und beobachtet, ohne ihn nochmals anzurufen. Er hatte zu viel zu denken gehabt und war auf allen den langen, mühsamen, nutzlosen Wegen immer tiefer in das Gewirre seines verfehlten Lebens geraten wie in zähe Dornranken, ohne den Sinn und Trost dazu zu finden. Dann war die Krankheit von neuem über ihn gekommen, und wenig fehlte, so wäre er eines Tages trotz allem doch noch in Gerbersau erschienen und hätte am Krankenhaus angeklopft. Aber als er nach tagelangem Alleinsein wieder die Stadt unten liegen sah, da klang ihm alles fremd und feindlich entgegen, und es ward ihm klar, daß er nimmer dorthin gehöre. Zuweilen kaufte er in einem Dorf ein Stück Brot, auch gab es noch Haselnüsse genug. Die Nächte brachte er in den Blockhütten der Waldarbeiter oder zwischen Strohbündeln auf dem Felde zu.
Jetzt kam er im dichten Schneetreiben vom Wolfsberg herüber gegen die Talmühle gegangen, verfallen und todesmüde und dennoch immerzu auf den Beinen, als müsse er den kleinen Rest seiner Tage noch mächtig ausnützen und laufen, laufen, allen Waldrändern und Schneisen nach. So krank und müde er war, seine Augen und seine Nüstern hatten die alte Beweglichkeit behalten; äugend und schnuppernd wie ein feinfühliger Jagdhund stellte er auch jetzt noch, da es keine Ziele mehr für ihn gab, jede Bodensenkung, jeden Windhauch, jede Tierspur fest. Sein Wille war nicht dabei, und seine Beine gingen von selber.
In seinen Gedanken aber stand er jetzt wieder, wie seit einigen Tagen fast immerzu, vor dem lieben Gott und sprach unaufhörlich mit ihm. Furcht hatte er keine; er wußte, daß Gott uns nichts tun kann. Aber sie sprachen miteinander, Gott und Knulp, über die Zwecklosigkeit seines Lebens, und wie das hätte anders eingerichtet werden können, und warum dies und jenes so und nicht anders habe gehen müssen.
»Damals ist es gewesen,« beharrte Knulp immer wieder, »damals, wie ich vierzehn Jahre alt war und die Franziska mich im Stich gelassen hat. Da hätte noch alles aus mir werden können. Und dann ist irgend etwas in mir kaputt gegangen oder verpfuscht worden, und von da an habe ich eben nichts mehr getaugt. – Ach was, der Fehler ist einfach der gewesen, daß du mich nicht mit vierzehn Jahren hast sterben lassen! Dann wäre mein Leben so schön und vollkommen gewesen wie ein reifer Apfel.«
Der liebe Gott aber lächelte immerzu, und manchmal verschwand sein Gesicht ganz in dem Schneetreiben.
»Na, Knulp,« sagte er ermahnend, »denk einmal an deine Jungeburschenzeit, und an den Sommer im Odenwald, und an die Lächstettener Zeiten! Hast du da nicht getanzt wie ein Reh, und hast das schöne Leben in allen Gelenken zucken gefühlt? Hast du nicht singen können und Harmonika spielen, daß den Mädchen die Augen übergelaufen sind? Weißt du noch die Sonntage in Bauerswil? Und deinen ersten Schatz, die Henriette? Ja, ist denn das alles nichts gewesen?«
Knulp mußte nachdenken, und wie ferne Bergfeuer strahlten ihm die Freuden seiner Jugend dunkelschön herüber und dufteten schwer und süß wie Honig und Wein, und klangen tieftönig wie Tauwind in der Vorfrühlingsnacht. Herrgott, es war schön gewesen, schön die Lust und schön die Trauer, und es wäre jammerschade um jeden Tag gewesen, der gefehlt hätte!
»Ach ja, es war schön,« gab er zu, und war doch voll Weinerlichkeit und Widerspruch wie ein müdes Kind. »Es war ja wunderschön damals. Freilich, Schuld und Traurigkeit ist auch schon dabei gewesen. Aber es ist wahr, es sind gute Jahre gewesen, und vielleicht haben nicht viele solche Becher ausgetrunken und solche Tänze angeführt und solche Liebesnächte gefeiert, wie ich dazumal. Aber dann, dann hätte es aus sein sollen! Schon dort war ein Stachel im Glück, ich weiß noch wohl, und dann sind niemals mehr so gute Zeiten gekommen. Nein, niemals mehr.«
Der liebe Gott war weit im Schneegewehe verschwunden. Nun, da Knulp ein wenig stehen blieb, um wieder zu Atem zu kommen und ein paar kleine Blutflecke in den Schnee zu spucken, nun war Gott unversehens wieder da und gab Antwort.
»Sag einmal, Knulp, bist du nicht ein wenig undankbar? Ich muß lachen, wie vergeßlich du geworden bist! Wir haben uns an die Zeit erinnert, wo du der Tanzbodenkönig warst, und an deine Henriette, und du hast zugeben müssen: es war gut und schön, es hat wohlgetan und einen Sinn gehabt. Und wenn du so an die Henriette denkst, mein Lieber, mit was für Gefühlen willst du dann gar an Lisabeth denken? He? Ja, hast du denn die ganz vergessen können?«