Vielleicht, dachte er, hätte er dem Gerber einen Wink geben sollen, seiner Meisterin wegen. Aber er liebte es nicht, seine Hände in anderer Leute Sorgen zu stecken, und er hatte kein Bedürfnis, die Menschen besser oder klüger machen zu helfen. Es tat ihm leid, daß es so gegangen war, und seine Gedanken an die ehemalige Ochsenkellnerin waren keineswegs freundlich; aber er dachte auch mit einem gewissen Spott an des Gerbers würdige Reden über Hausstand und Eheglück. Er kannte das, es war meistens nichts damit, wenn einer mit seinem Glück oder mit seiner Tugend sich rühmte und groß tat, mit des Flickschneiders Frömmigkeit war es einst ebenso gewesen. Man konnte den Leuten in ihrer Dummheit zusehen, man konnte über sie lachen oder Mitleid mit ihnen haben, aber man mußte sie ihre Wege gehen lassen.
Mit einem gedankenvollen Seufzer tat er diese Sorgen beiseite. Er lehnte sich in die Höhlung einer alten Kastanie, der Brücke gegenüber, und dachte weiter seiner Wanderschaft nach. Er wäre gerne quer über den Schwarzwald gegangen, aber da oben war es jetzt kalt, und vermutlich lag noch viel Schnee, man verdarb sich die Stiefel, und die Schlafgelegenheiten waren weit auseinander. Nein, damit war es nichts, er mußte den Tälern nachgehen und sich an die Städtchen halten. Die Hirschenmühle, vier Stunden weiter unten am Fluß, war der erste sichere Rastort, dort würde man ihn bei schlechtem Wetter ein, zwei Tage behalten.
Wie er so in Gedanken stand und kaum mehr daran dachte, daß er auf jemanden warte, erschien in Dunkelheit und Zugwind auf der Brücke eine schmale ängstliche Gestalt und kam zögernd näher. Er erkannte sie sofort, lief ihr freudig und dankbar entgegen und schwang den Hut.
»Das ist lieb, daß Ihr kommet, Bärbele, ich habe schon beinah nimmer dran geglaubt.«
Er ging zu ihrer Linken und führte sie die Allee flußaufwärts. Sie war zaghaft und schämte sich.
»Es war doch nicht recht,« sagte sie wieder und wieder. »Wenn uns nur niemand sieht!«
Knulp aber hatte eine Menge zu fragen, und bald wurden die Schritte des Mädchens ruhiger und gleichmäßiger, und schließlich ging sie leicht und munter neben ihm wie ein Kamerad und erzählte, von seinen Fragen und Einwürfen erwärmt, mit Begier und Eifer von ihrer Heimat, von Vater und Mutter, Bruder und Großmama, von den Enten und Hühnern, von Hagelschlag und Krankheiten, von Hochzeiten und Kirchweihfesten. Ihr kleiner Schatz an Erlebnissen tat sich auf und war größer, als sie selber geglaubt hätte, und schließlich kam die Geschichte ihrer Verdingung und ihres Abschieds von daheim, ihr jetziger Dienst und das Hauswesen ihres Dienstherren an die Reihe.
Sie waren längst weit vor dem Städtchen draußen, ohne daß Bärbele auf den Weg geachtet hatte. Nun hatte sie sich von einer langen, trüben Woche des Fremdseins, Schweigens und Duldens im Plaudern erlöst und war ganz lustig geworden.
»Wo sind wir denn aber?« rief sie plötzlich verwundert. »Wo laufen wir denn hin?«
»Wenn es Euch recht ist, gehen wir nach Gertelfingen hinein, wir sind gleich dort.«
»Gertelfingen? Was sollen wir da? Wir wollen lieber umkehren, es wird spät.«
»Wann müsset Ihr denn daheim sein, Bärbele?«
»Um zehne. Da wird’s Zeit. Es ist ein netter Spaziergang gewesen.«
»Bis zehne ist’s noch lang,« sagte Knulp, »und ich will gewiß dran denken, daß Ihr zur Zeit heimkommet. Aber weil wir doch nimmer so jung zusammen kommen, so könnten wir eigentlich heut noch einen Tanz miteinander riskieren. Oder möget Ihr nicht tanzen?«
Sie sah ihn gespannt und verwundert an.
»O, tanzen mag ich immer. Aber wo denn? Hier mitten in der Nacht draußen?«
»Ihr müsset wissen, wir sind gleich in Gertelfingen, und da ist Musik im Löwen. Wir können hinein gehen, bloß auf einen einzigen Tanz, und dann gehen wir heim und haben einen schönen Abend gehabt.«
Bärbele blieb zweifelnd stehen.
»Es wäre lustig,« meinte sie langsam. »Aber was soll man von uns denken? Ich will nicht für so eine angeschaut werden, und ich will auch nicht, daß man meint, wir zwei gehören zusammen.«
Und plötzlich lachte sie übermütig auf und rief: »Nämlich, wenn ich später einmal einen Schatz haben will, dann muß es kein Gerber sein. Ich will Euch nicht beleidigen, aber Gerber ist doch ein unsauberes Handwerk.«
»Da habet Ihr vielleicht recht,« sagte Knulp gutmütig. »Ihr sollet mich ja auch nicht heiraten. Es weiß kein Mensch, daß ich ein Gerber bin und daß Ihr so stolz seid, und die Hände hab ich mir gewaschen, und wenn Ihr also einmal mit mir herumtanzen wollt, so seid Ihr eingeladen. Sonst kehren wir um.«
Sie sahen in der Nacht das erste Haus des Dorfes mit einem bleichen Giebel aus Gebüschen schauen, und Knulp sagte plötzlich »Bst!« und hob den Finger auf, und da hörten sie vom Dorfe her die Tanzmusik, eine Ziehharmonika und eine Geige, tönen.
»Also denn!« lachte das Mädchen, und sie gingen rascher.
Im Löwen tanzten nur vier oder fünf Paare, lauter junge Leute, die Knulp nicht kannte. Es ging still und anständig zu, und niemand belästigte das fremde Paar, das sich dem nächsten Tanz anschloß. Sie machten einen Ländler und eine Polka mit, dann kam ein Walzer, den Bärbele nicht konnte. Sie sahen zu und tranken einen Pfiff Bier, weiter reichte Knulps Barschaft nicht.
Bärbele war beim Tanzen warm geworden und blickte nun mit glänzenden Augen in den kleinen Saal.
»Jetzt wär es eigentlich Zeit zum Heimgehen,« sagte Knulp, als es halb zehn Uhr war.
Sie fuhr auf und sah ein wenig traurig aus.
»Ach schade!« sagte sie leise.
»Wir können ja noch dableiben.«
»Nein, ich muß heim. Und schön war’s.«
Sie gingen weg, aber unter der Tür fiel es dem Mädchen ein: »Wir haben ja der Musik gar nichts gegeben.«
»Ja,« meinte Knulp etwas verlegen, »sie hätten wohl einen Zwanziger verdient. Aber es steht leider so mit mir, daß ich keinen habe.«
Sie wurde eifrig und zog ihren kleinen gestrickten Geldbeutel aus der Tasche.
»Warum saget Ihr auch nichts? Da ist ein Zwanziger, gebet den!«
Er nahm das Geldstück und brachte es den Musikanten, dann gingen sie hinaus und mußten vor der Haustür einen Augenblick stehen bleiben, bis sie in der tiefen Dunkelheit den Weg sahen. Der Wind ging stärker und führte einzelne Regentropfen.
»Soll ich den Schirm auftun?« fragte Knulp.
»Nein, bei dem Wind, wir kämen ja nicht weiter. Es ist nett gewesen da drinnen. Ihr könnet’s fast wie ein Tanzmeister, Gerber.«
Sie plauderte fröhlich fort. Ihr Freund aber war still geworden, vielleicht daß er müde ward, vielleicht daß er den nahen Abschied fürchtete.
Plötzlich fing sie an zu singen: »Bald gras’ ich am Neckar, bald gras’ ich am Rhein.« Ihre Stimme klang warm und rein, und beim zweiten Vers fiel Knulp mit ein und sang die zweite Stimme so sicher, tief und schön, daß sie mit Behagen darauf horchte.