»So, ist jetzt das Heimweh vergangen?« fragte er am Ende.
»O ja,« lachte sie hell. »Wir müssen wieder einmal so einen Spaziergang machen.«
»Das tut mir leid,« antwortete er leiser. »Es wird wohl der letzte gewesen sein.«
Da blieb sie stehen. Sie hatte nicht genau zugehört, aber der betrübte Klang seiner Worte war ihr aufgefallen.
»Ja, was ist denn?« fragte sie leicht erschrocken. »Habt Ihr was gegen mich?«
»Nein, Bärbele. Aber morgen muß ich fort, ich habe gekündigt.«
»Was Ihr nicht saget! Ist’s wahr? Das tut mir aber leid.«
»Um mich muß es Euch nicht leid sein. Lang wär’ ich doch nicht geblieben, und ich bin ja auch bloß ein Gerber. Ihr müsset bald einen Schatz haben, einen recht schönen, dann kommt das Heimweh nimmer, Ihr werdet sehen.«
»Ach, redet nicht so! Ihr wisset, daß ich Euch ganz gern habe, wenn Ihr auch nicht mein Schatz seid.«
Sie schwiegen beide, der Wind pfiff ihnen ins Gesicht. Knulp ging langsamer. Sie waren schon nah bei der Brücke. Schließlich blieb er stehen.
»Ich will Euch jetzt adieu sagen, es ist besser, Ihr gehet die paar Schritte noch allein.«
Bärbele sah ihm mit aufrichtiger Betrübnis ins Gesicht.
»Es ist also Ernst? Dann sage ich Euch auch noch meinen Dank. Ich will es nicht vergessen. Und alles Gute auch!«
Er nahm ihre Hand und zog sie an sich, und während sie ängstlich und verwundert in seine Augen sah, nahm er ihren Kopf mit den vom Regen feuchten Zöpfen in beide Hände und sagte flüsternd: »Adieu denn, Bärbele. Ich will jetzt zum Abschied noch einen Kuß von Euch haben, daß Ihr mich nicht ganz vergesset.«
Ein wenig zuckte sie und strebte zurück, aber sein Blick war gut und traurig, und sie sah erst jetzt, wie schöne Augen er habe. Ohne die ihren zu schließen, empfing sie ernsthaft seinen Kuß, und da er darauf mit einem schwachen Lächeln zögerte, bekam sie Tränen in die Augen und gab ihm den Kuß herzhaft zurück.
Dann ging sie schnell davon und war schon über der Brücke, da kehrte sie plötzlich um und kam wieder zurück. Er stand noch am selben Ort.
»Was ist, Bärbele?« fragte er. »Ihr müsset heim.«
»Ja, ja, ich geh schon. Ihr dürfet nicht schlecht von mir denken!«
»Das tu ich gewiß nicht.«
»Und wie ist denn das, Gerber? Ihr habet doch gesagt, Ihr hättet gar kein Geld mehr? Ihr krieget doch noch Lohn, eh Ihr fortgeht?«
»Nein, Lohn kriege ich keinen mehr. Aber es macht nichts, ich komme schon durch, da müsset Ihr Euch keine Gedanken machen.«
»Nein, nein! Ihr müsset etwas im Sack haben. Da!«
Sie steckte ihm ein großes Geldstück in die Hand, er spürte, daß es ein Taler war.
»Ihr könnet mir’s einmal wiedergeben oder schicken, später einmal.«
Er hielt sie an der Hand zurück.
»Das geht nicht. So dürfet Ihr nicht mit Eurem Geldlein umgehen! Das ist ja ein ganzer Taler. Nehmt ihn wieder! Nein, Ihr müsset! So. Man muß nicht unvernünftig sein. Wenn Ihr was Kleines bei Euch habt, einen Fünfziger oder so, das nehm ich gerne, weil ich in der Not bin. Aber mehr nicht.«
Sie stritten noch ein wenig, und Bärbele mußte ihren Geldbeutel herzeigen, weil sie sagte, sie habe nichts als den Taler. Es war aber nicht so, sie hatte auch noch eine Mark und einen kleinen silbernen Zwanziger, die damals noch galten. Den wollte er haben, aber das war ihr zu wenig, und dann wollte er gar nichts nehmen und fortgehen, aber schließlich behielt er das Markstück, und sie lief nun im Trabe heimwärts.
Unterwegs dachte sie beständig darüber nach, warum er sie jetzt nicht noch einmal geküßt habe. Bald wollte es ihr leid tun, bald fand sie es gerade besonders lieb und anständig, und dabei blieb sie schließlich.
Eine gute Stunde später kam Knulp nach Hause. Er sah im Wohnzimmer droben noch Licht brennen, also saß die Meisterin noch auf und wartete auf ihn. Er spuckte ärgerlich aus und wäre beinahe davongelaufen, gleich jetzt in die Nacht hinein. Aber er war müde, und es würde regnen, und dem Weißgerber wollte er das auch nicht antun, und außerdem spürte er auf diesen Abend hin noch Lust zu einem bescheidenen Schabernack.
So fischte er denn den Schlüssel aus seinem Versteck heraus, schloß vorsichtig wie ein Dieb die Haustüre auf, zog sie hinter sich zu, schloß mit zusammengepreßten Lippen geräuschlos ab und versorgte den Schlüssel sorgfältig am alten Platz. Dann stieg er auf Socken, die Schuhe in der Hand, die Stiege hinauf, sah Licht durch eine Ritze der angelehnten Stubentür und hörte die beim langen Warten eingeschlafene Meisterin drinnen auf dem Kanapee tief in langen Zügen atmen. Darauf stieg er unhörbar in seine Kammer hinauf, schloß sie von innen fest ab und ging ins Bett. Aber morgen, das war beschlossen, wurde abgereist.
Meine Erinnerung an Knulp
Es war noch mitten in der fröhlichen Jugendzeit, und Knulp war noch am Leben. Wir wanderten damals, er und ich, in der glühenden Sommerszeit durch eine fruchtbare Gegend und hatten wenig Sorgen. Tagsüber schlenderten wir an den gelben Kornfeldern hin oder lagen auch unter einem kühlen Nußbaum oder am Waldesrand, am Abend aber hörte ich zu, wie Knulp den Bauern Geschichten erzählte, den Kindern Schattenspiele vormachte und für die Mädchen seine vielen Lieder sang. Ich hörte mit Freude zu und ohne Neid, nur wenn er unter den Mädchen stand und sein braunes Gesicht wetterleuchtete und die Jungfern zwar viel lachten und spotteten, aber mit unverwandten Blicken an ihm hingen, da schien es mir zuweilen, er sei doch ein seltener Glücksvogel oder ich das Gegenteil, und dann ging ich manchmal zur Seite, um nicht so überflüssig dabei zu stehen, und begrüßte entweder den Pfarrer in seiner Wohnstube um ein gescheites Abendgespräch und ein Nachtlager, oder ich setzte mich ins Gasthaus zu einem stillen Wein.
Eines Nachmittags, erinnere ich mich, kamen wir an einem Kirchhof vorüber, der samt einer kleinen Kapelle verlassen zwischen den Feldern lag, weit weg vom nächsten Dorf, und mit seinen dunkeln Gebüschen überm Mauerkranz recht friedvoll und heimatlich in dem heißen Lande ruhte. Am Eingangsgitter standen zwei große Kastanienbäume, es war aber verschlossen, und ich wollte weitergehen. Doch Knulp mochte nicht, er schickte sich an, über die Mauer zu steigen.
Ich fragte: »Schon wieder Feierabend?«
»Wohl, wohl, sonst tun mir bald die Sohlen weh.«
»Ja, muß es denn gerade ein Kirchhof sein?«
»Ganz gern, komm du nur mit. Die Bauern gönnen sich nicht viel, das weiß ich wohl, aber unter der Erde wollen sie’s doch gut haben. Darum lassen sie sich’s gern eine Mühe kosten und pflanzen was Sauberes auf die Gräber und daneben.«
Da stieg ich mit hinüber und sah, daß er recht hatte, denn es lohnte sich wohl, über das Mäuerlein zu klettern. Da innen lagen in geraden und in krummen Reihen die Gräber nebeneinander, die meisten mit einem weißen Kreuz von Holz versehen, und darauf und darüber war es grün und blumenfarbig. Da glühte freudig Winde und Geranium, im tiefern Schatten auch noch später Goldlack, und Rosenbüsche hingen voller Rosen, und Fliederbäume und Holunderbäume standen dick im Holz und Laub, daß es wie ein Lustgarten war.
Wir schauten alles ein wenig an und setzten uns dann im Grase, das stellenweise hoch und in Blüte stand, und ruhten aus und wurden kühl und zufrieden.