Als die Nacht hereinbrach, verbarrikadierten wir die Hüttenöffnung mit Proviantkisten, aber es wurde ein nasses Lager. Wir waren kaum eingeschlafen, als es das erste Mal durch die Bambuswand wie durch ein Sieb in tausend Fontänen hereinbrach. Ein schäumender Wasserfall ergoß sich über uns und den Proviant.
»Telefoniert um den Installateur!« hörte ich eine verschlafene Stimme bemerken, als wir zusammenkrochen, damit die See wenigstens durch den Fußboden ablaufen konnte. Der Installateur blieb jedoch aus, und wir bekamen viel Badewasser ins Bett diese Nacht. Sogar ein großer Dolfin landete während Hermanns Wache unverschuldet an Bord.
Am nächsten Tag waren die Seen weniger verwirrt, nachdem der Passat beschlossen hatte, eine Zeitlang genau von Osten zu blasen. Wir lösten einander in der Mastspitze ab, denn wir konnten jetzt erwarten, den verhexten Punkt während des Vormittags zu Gesicht zu bekommen. An diesem Tag bemerkten wir mehr Leben als gewöhnlich in der See, aber vielleicht war es nur, weil wir besser Ausguck hielten. Am Vormittag sahen wir einen großen Schwertfisch, der dicht unter der Oberfläche gegen das Floß gefahren kam. Es waren zwei Meter Zwischenraum zwischen den zwei spitzen Flossen, die aus dem Wasser stachen, und das Schwert war fast ebenso lang wie sein Körper. Der Schwertfisch beschrieb einen Bogen, dicht an unserem Steuermann vorbei, und verschwand hinter den Wellenkämmen. Als wir unsere etwas salztropfende Mittagsmahlzeit einnahmen, wurde eine große Meerschildkröte mit Schild, Kopf und gespreizten Flossen von einer kegelförmigen See dicht vor unserer Nase in die Luft gehoben. Als diese See ihren Platz zwei anderen überließ, war die Schildkröte so plötzlich verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Auch dieses Mal sahen wir es weißgrün von Dolfinbäuchen blinken, die sich im Wasser unter dem gepanzerten Reptil tummelten. Die Gegend war ungewöhnlich reich an winzigen fliegenden Fischen, nur einen Zoll lang, die in großen Schwärmen dahinsegelten und oft an Deck landeten. Ebenso beobachteten wir vereinzelte Raubmöwen und bekamen ständig Besuch von Fregattvögeln, die über dem Floß kreisten und wie Riesenschwalben ihre Schwänze spreizten. Fregattvögel werden gern als Zeichen betrachtet, daß Land in der Nähe ist, so daß sich der Optimismus an Bord noch hob.
»Vielleicht ist es doch eine Schäre oder eine Sandbank«, dachte mancher, und unser größter Optimist sagte:
»Stellt euch vor, wir finden einen kleinen grünen Fleck. Man kann nie wissen. Es sind doch nur so wenige gewesen, die vor uns hier waren. Dann haben wir Neuland entdeckt, die Kon-Tiki-Insel.«
Von Mittag an war Erich immer geschäftiger, auf die Küchenkiste zu klettern und mit dem Sextanten zu messen. Um 18.20 Uhr meldete er 6 Grad 42 Minuten südliche Breite und 99 Grad 42 Minuten westliche Länge als Position. Wir waren nun eine Seemeile genau östlich vor dem Riff auf unserer Karte. Die Bambusrah wurde gefiert und das Segel auf Deck aufgerollt. Der Wind kam genau von Osten und würde uns langsam dicht an die Stelle bringen. Da die Sonne rasch im Meer verschwand, durfte der Mond mit all seinem Glanz aufgehen und leuchtete über die Meeresfläche, die in Schwarz und Silber von Horizont zu Horizont wogte. Die Sicht von der Mastspitze war gut. Brechende Seen sahen wir überall in langen Reihen, aber keine stehende Brandung, die von einem Riff oder einer Untiefe herrühren konnte. Keiner wollte in die Koje kriechen, alle spähten gespannt hinaus, und zwei oder drei Mann hingen immer auf einmal im Mast. Und während wir über das Zentrum trieben, loteten wir nach Boden. Alles, was wir an Bleigegenständen an Bord hatten, wurde am Ende von 800 Metern 54fädiger Seidenschnur befestigt, und selbst wenn diese Schnur durch die Abtrift teilweise schräg zum Grund hing, so ging dieses Lot doch auf jeden Fall bis zu 600 Meter tief, und hier existierte kein Grund, weder westlich der Stelle, mitten darin, noch östlich von ihr. Wir warfen noch einen letzten Blick über die Meeresfläche. Nachdem wir uns vergewissert hatten, daß wir mit Sicherheit die Gegend erforscht nennen konnten und sie frei von Untiefen jeder Art gefunden hatten, hißten wir unser Segel und legten das Ruder in seine gewöhnliche Stellung hinüber, so daß Wind und Wetter wieder von Backbord achtern hereinkamen, und dann ging es weiter mit dem natürlichen, freien Kurs des Floßes. Wie zuvor kamen die Wellen und verschwanden zwischen den gespreizten Stämmen am Achterdeck. Wir konnten von neuem trocken schlafen und essen, selbst wenn die Sturzseen um uns wieder ernst wurden und noch viele Tage hausten, während der Passat von Ost nach Südost schwenkte.
Bei dieser kleinen Segeltour gegen das falsche Riff hatten wir eine ganze Menge über die Wirkung der Senkbretter als Kiele gelernt, und als Hermann und Knut im weiteren Verlauf der Reise gemeinsam unter das Floß tauchten und jenes fünfte Senkbrett bargen, erfuhren wir noch mehr über diese nützlichen Brettstücke, Dinge, die kein Mensch mehr verstanden hatte, seitdem die Indianer selbst diesen vergessenen Sport im Futteral ließen. Daß diese Senkbretter als Kiele wirkten und dem Floß gestatteten, in einem Winkel mit dem Winde zu fahren, war klar wie dicke Tinte. Aber daß die alten Spanier behaupteten, daß die Indianer in großem Umfange auch ihre Balsaflöße auf dem Meer zu steuern wußten mit Hilfe gewisser versenkbarer Bretter, die sie in die Zwischenräume zwischen den Stämmen hinuntersteckten, hörte sich ganz unbegreiflich an für uns alle, die sich jemals mit diesem Problem beschäftigten. Da diese Bretter in einer schmalen Spalte festsaßen, konnten sie ja nicht nach der Seite verdreht werden und daher auch nicht als Ruder wirken.
Wir kamen auf die Lösung dieses Geheimnisses auf folgende Art: Der Wind war stetig und die See wieder ruhig geworden, so daß die »Kon-Tiki« seit ein paar Tagen einen scharfen Kurs lief, ohne daß wir an dem festgebundenen Steuerruder rührten. So steckten wir den wiedergefundenen Senkkiel in einen Zwischenraum im Achterdeck, und momentan schwenkte die »Kon-Tiki« ab, und zwar um viele Grade von Westen gegen Nordwesten und setzte sicher und ruhig ihren neuen Kurs fort. Zogen wir dieses Brett wieder herauf, schwenkte das Floß wieder in seine alte Richtung zurück, zogen wir es bloß halb heraus, so ging es auch wieder halb auf den alten Kurs. Durch einfaches Heben und Senken dieser Schwerter konnten wir neue stabile Kurse ausstekken, ohne das Steuerruder zu verändern. Das war das geniale Geheimnis der Inkas: sie arbeiteten ein einfaches Gleichgewichtssystem aus, bei dem Mast und Segel den festen Punkt bildeten, auf den der Druck des Windes wirkte. Die zwei Hebelarme waren das Floß vor und hinter dem Mast. Wurde die gesamte Senkkielfläche achtern übermächtig, dann schwang der Vordersteven mit dem Winde herüber, wurde aber die Senkkielfläche vorne stärker, so drehte das Achterende mit dem Winde. Die Senkkiele, die dem Mast am nächsten waren, waren selbstverständlich am wenigsten wirksam auf Grund des Verhältnisses zwischen Gewichtsarm und Kraft. Kam der Wind genau von achtern, so hörte die Wirkung dieser Bretter auf. Aber da war es auch unangenehm, das Floß ruhig zu halten, ohne ständig mit dem Steuerruder zu arbeiten. Und fuhr das Floß so ganz seiner Länge nach, wurde es auch ein wenig zu lang, um frei über die Seen zu gleiten. Und nachdem die Hüttentür und der Speiseplatz auf der Steuerbordseite waren, nahmen wir auch deshalb immer den Wind schräg von Backbord achtern. Wir hatten es nun leicht, unseren Weg über das Meer fortzusetzen, indem der Steuermann diese Senkkiele in einer Spalte auf- und niederhob, anstatt am Tauwerk beim Steuerruder zu ziehen, aber wir hatten uns so an das Steuerruder gewöhnt, daß wir nur den groben Kurs mit den Senkkielen setzten, während wir es vorzogen, mit dem Ruder zu steuern.
Der nächste Markstein der Reise war gleich unsichtbar für das Auge wie jene Schäre, die nur auf der Karte existierte. Es war der fünfundvierzigste Tag auf See. Wir waren hier vom 78. Längengrad bis zum 108. Grad gekommen und waren nun genau auf halbem Wege zu den ersten Inseln vor uns. Es waren viertausend Kilometer hinter uns nach Südamerika im Osten und gleich weit vorwärts nach Polynesien im Westen. Der nächste feste Punkt in irgendeiner Himmelsrichtung waren die Galapagosinseln im Nordnordosten und die Osterinsel genau im Süden. Beide sind über tausend Kilometer weit durch ein endloses Weltmeer getrennt. Schiffe hatten wir keine gesehen, und wir bekamen auch überhaupt keine zu Gesicht, denn wir befanden uns außerhalb der Routen für allen gewöhnlichen Schiffsverkehr im Ozean. Aber wir bekamen nie ein genaues Gefühl für diese enormen Entfernungen, denn der Horizont glitt unmerklich mit uns, da wir selbst trieben, und unsere fließende oder schwimmende Welt blieb immer die gleiche. Das Floß war das Zentrum, um das sich der weite Himmel wölbte. Und dieselben Sterne drehten sich über uns Nacht für Nacht.