Wieder verloren wir uns an die treibenden Wolken und an das vom Mondlicht überflutete Meer. Da begann der alte Eingeborene, der halbnackt vor uns hockte und in die sterbende Glut einer kleinen, ausgebrannten Feuerstelle starrte, zu sprechen:
»Tiki«, sagte der Alte geheimnisvoll, »war Gott und Häuptling zugleich. Tiki war es, der unsere Vorväter auf die Inseln gebracht hat, auf denen wir heute leben. Früher wohnten wir in einem großen Lande weit hinter dem Meer.«
Er stocherte mit einem Zweig in der Glut, um ihr Erlöschen zu verhindern. In sich zusammengesunken hockte er da und sann, ein uralter Mann, der noch in der Vorzeit lebte und ihr mit allen Fasern seines Wesens verhaftet war. Er verehrte seine Vorväter, wußte um ihr Schicksal bis in die Zeiten der Götter und wartete darauf, sich mit ihnen wieder zu vereinigen. Tei Tetua war der letzte Überlebende von all den ausgestorbenen Stämmen auf Fatuhivas Ostküste. Er wußte nicht, wie alt er war, aber seine runzlige, borkigbraune Haut sah aus, als hätten Sonne und Wind sie in hundert Jahren gegerbt. Er war sicher einer von den wenigen auf diesen Inseln, die sich noch an die Sagen um ihre Väter und Vorväter und den großen polynesischen Häuptlingsgott Tiki, den Sohn der Sonne, erinnerten und daran glaubten.
Als wir in dieser Nacht in unserem winzigen Pfahlbau in die Koje krochen, spukten die Erzählungen des alten Tei Tetua über die heilige Heimat jenseits des Meeres noch immer in meinem Hirn, in der Ferne begleitet vom dumpfen Getose der Wogen. Es klang wie eine Stimme aus der Urzeit, die uns da draußen in der Nacht etwas erzählen wollte. Ich konnte nicht schlafen. Es war, als ob die Zeit nicht mehr existierte und Tiki und seine seefahrenden Männer gerade an Land gehen wollten, da unten am Strand in der Brandung. Da stürzte plötzlich ein Gedanke auf mich ein:
»Liv, hast du eigentlich gemerkt, daß die riesigen Steinbilder von Tiki droben im Dschungel auffallend an die mächtigen Steinplastiken in Südamerika erinnern, an diese Reste längst ausgestorbener Kulturen?!«
Da hörte ich deutlich ein anerkennendes Murmeln von der Brandung herauf. Und dann wurde sie langsam ruhig. Ich schlief ein.
So fing es vielleicht an. Auf jeden Fall begann so eine Kette von Geschehnissen, die schließlich uns sechs samt einem grünen Papagei auf ein Floß vor Südamerikas Küste brachte.
Es ist mir heute noch schrecklich, wie ich meinen Vater verärgert und meine Mutter und meine Freunde vor den Kopf gestoßen habe, als ich nach Norwegen zurückkam und meine Sammlungen von Käfern und Fischen von Fatuhiva dem Zoologischen Museum der Universität übergab. Ich wollte meine Tierstudien abschließen und mich auf die Erforschung primitiver Volksstämme verlegen. Die ungelösten Rätsel der Südsee hatten mich in ihren Bann gezogen. Sie mußten eine vernünftige Lösung haben, und ich setzte mir zum Ziel, die Sagengestalt Tiki zu identifizieren.
In den folgenden Jahren waren Brandung und Dschungelruinen wie ein ferner und unwirklicher Traum, der hinter meinen Arbeiten über die Stämme der Südsee stand.
So sinnlos wie der Versuch, mit Bücherstudium und Museumsbesuchen die Gedanken und Handlungen eines Naturvolkes verstehen zu wollen, so sinnlos ist es aber auch für einen Forschungsreisenden der Gegenwart, all die Gegenden selbst aufzusuchen, die er in einem einzigen Band dargestellt finden kann.
Wissenschaftliche Werke, Darstellungen aus den Tagen der Entdeckungen und endlose Sammlungen in den Museen Europas und Amerikas boten mir eine Überfülle an Material für das Puzzlespiel, das ich zusammenzusetzen versuchte.
Seit die Südseeinseln nach der Entdeckung Amerikas von Europäern erreicht wurden, haben Forscher verschiedenster Wissensgebiete einen nahezu unübersehbaren Berg von Nachrichten über die Polynesier und ihre Nachbarn zusammengetragen. Aber es gab nie eine Einigung über die Herkunft dieses isolierten Menschenschlages oder über die Ursache, warum er sich gerade auf die einsamen Inseln des östlichen Pazifiks beschränkt.
Als die ersten Europäer sich auf dieses größte aller Weltmeere hinausgewagt hatten, entdeckten sie zu ihrem Erstaunen mitten darin eine Menge kleiner gebirgiger Inseln und flacher Korallenriffe, getrennt voneinander und der übrigen Welt durch unendliche Seestrecken. Und jede einzelne dieser Inseln war bereits von Menschen bewohnt, die viel früher hierhergekommen waren. Schön und hochgewachsen, liefen sie ihnen am Strande mit Hunden, Schweinen und Hühnern entgegen. Woher waren sie gekommen? Sie redeten eine Sprache, die kein anderes Volk verstand, und unsere Rasse, die sich keck Entdecker der Inseln nannte, fand hier wohlbestelltes Land und Dörfer mit Tempeln und Hütten auf jedem kleinsten bewohnbaren Eiland. Ja, auf manchen Inseln gab es sogar uralte Pyramiden, gepflasterte Straßen und steinerne Statuen in den Ausmaßen eines vierstöckigen Hauses.
Aber die Klärung des Geheimnisses blieb aus. Wer waren diese Leute, und woher kamen sie?
Man kann ruhig sagen, daß die Antworten auf diese Rätsel ebenso zahlreich sind wie die Bücher, die sich damit befassen. Die Spezialisten der verschiedenen Kulturbereiche haben auch verschiedene Lösungen ausgeheckt, aber ihre Behauptungen wurden stets widerlegt durch logische Beweise der Fachleute, die in anderer Richtung arbeiteten. Die malaiischen Inseln, Indien, China, Japan, Arabien, Ägypten, der Kaukasus, Atlantis, ja sogar Deutschland und Norwegen wurden für die Herkunft der Polynesier verantwortlich gemacht, aber immer ergab sich irgendein entscheidender Haken, der wieder die ganze Theorie in der Luft schweben ließ.
Wo aber die Wissenschaft stehenbleiben mußte, hatte die Phantasie freies Spiel. Die geheimnisvollen Riesenpfeiler aus Stein auf der Osterinsel und all die anderen Kulturreste unbekannten Ursprungs auf diesem winzigen offenen Eiland, das so mutterseelenallein genau in der Mitte zwischen der nächsten Insel und der Küste Südamerikas liegt, verleiteten geradezu zu den verschiedensten Spekulationen. Viele wollten in den Funden auf der Osterinsel offenkundige Überreste von Südamerikas prähistorischen Kulturen sehen. Vielleicht waren die Osterinsel und all die anderen Südseeinseln, die entsprechende Denkmäler besaßen, Reste eines versunkenen Kontinents, die noch über die Meeresfläche ragten?
Das wäre nun eine brauchbare Theorie und eine annehmbare Erklärung gewesen, aber sie war weder bei Geologen noch anderen Forschern geschätzt. Im Gegenteil! Die Zoologie bewies ganz scharf an Hand der Untersuchung von Insekten und Schnecken auf den Südseeinseln, daß diese in der ganzen Menschheitsgeschichte vollständig isoliert voneinander und von den umgebenden Kontinenten waren, genauso, wie sie es auch heute noch sind.
Wir wissen daher mit aller Bestimmtheit, daß die urpolynesische Rasse einmal treibend oder fahrend diese abgelegenen Inseln erreicht hat - mit oder gegen ihren eigenen Willen. Unterzieht man die Südseeinsulaner einer gründlicheren Untersuchung, so wird man entdecken, daß es nicht allzu viele Jahrhunderte her sein kann, daß sie an Land gingen. Denn obwohl die Polynesier über eine Meeresfläche verteilt leben, viermal so groß wie ganz Europa, so sind sie doch nicht so weit, wirklich verschiedene Sprachen auf den verschiedenen Inseln entwickelt zu haben. Von Hawaii im Norden nach Neuseeland im Süden, von Samoa im Westen zur Osterinsel im Osten sind es Tausende von Seemeilen, und trotzdem sprechen diese isolierten Stämme Dialekte einer Sprache, die wir Polynesisch nennen. Die Schrift ist auf all diesen Inseln unbekannt mit Ausnahme einiger Holzplatten mit unentzifferbaren Hieroglyphen, die die Eingeborenen auf der Osterinsel aufbewahrten, ohne daß sie selbst oder irgendein anderer sie lesen konnten. Aber Schulen hatten sie, und ein poetischer Geschichtsunterricht war ihr wichtigstes Fach, denn in Polynesien war Geschichte dasselbe wie Religion. Sie verehrten ihre Ahnen und pflegten die Erinnerung an die toten Häuptlinge bis in die fernen Zeiten Tikis, von dem sie zu berichten wußten, er sei der Sohn der Sonne gewesen.
Auf fast jeder einzelnen Insel konnten gelehrte Männer die Namen aller Häuptlinge auswendig bis zurück in die Zeit, in der die Eilande besiedelt wurden. Als Erinnerungshilfe verwendeten sie dabei oft ein verwickeltes System von verzweigten Knotenschnüren gleich dem, das die Inka-Indianer in Peru gebrauchten. Moderne Forscher haben alle diese lokalen Genealogien der verschiedenen Inseln verglichen und dabei herausgefunden, daß sie untereinander verblüffend genau übereinstimmen, sowohl in den Namen wie in der Anzahl der Generationen. Daraus konnte man errechnen, daß die Südseeinseln, wenn man eine durchschnittliche polynesische Generation von fünfundzwanzig Jahren annimmt, nicht vor etwa 500 n. Chr. bevölkert wurden. Eine neue Kulturwelle mit wieder einer neuen Häuptlingsreihe deutet auf eine andere und noch spätere Einwanderung, die dieselben Inseln erst um 1100 n. Chr. erreicht haben kann.