Ein anderes Problem trat in den Vordergrund: Wo sollte die Reise enden?
Die »Kon-Tiki« würde gnadenlos weiter nach Westen schaukeln, bis sie ihren Bug gegen eine solide Klippe oder einen anderen festen Grund stieß, der die Trift blockierte. Die Reise war nicht zu Ende, bevor wir nicht alle Mann an einer von den zahlreichen Südseeinseln wohlbehalten an Land kamen.
Als wir den letzten Sturm hinter uns hatten, war es ganz ungewiß, wohin das Floß mit uns treiben würde. Wir waren nun von den Marquesasinseln und von der Tuamotugruppe gleich weit entfernt. Bei unserer jetzigen Position konnte es uns passieren, daß wir zwischen beiden Inselgruppen hindurchsegelten, ohne einen Schimmer von Land zu erblicken. Die nächste Insel in der Marquesasgruppe lag im Nordwesten, dreihundert Meilen vor uns, und die nächste Insel der Tuamotugruppe lag im Südwesten, ebenfalls dreihundert Meilen entfernt. Das Eiland, das uns im Nordwesten am nächsten lag, war kein anderes als Fatuhiva. Jene kleine, dschungelbedeckte Berginsel, auf der ich in einer Pfahlhütte am Strand gewohnt und den lebendigen Erzählungen des alten Eingeborenen vom Stammgott Kon-Tiki gelauscht hatte. Wenn unsere »Kon-Tiki« denselben Strand anlief, würde ich sicher viele Bekannte treffen, doch kaum den Alten selbst. Der hatte wohl schon längst in der heimlichen Hoffnung, den wirklichen Tiki wiederzusehen, die »lange Reise« angetreten. Trug es uns gegen die Felseilande der Marquesasgruppe, so lagen dort die wenigen Inseln weit auseinander. Ungehemmt donnerte das Meer gegen die steilen Klippenwände, die nur selten von Talmündungen durchbrochen wurden. Davor lag dann immer ein schmaler Strand und bot eine Landungsmöglichkeit. Aber diese Zugänge mußte man finden.
Trug es uns jedoch gegen die Korallenriffe der Tuamotugruppe, so lagen hier zwar zahlreiche Inseln dicht beieinander und bedeckten eine gewaltige Meeresfläche, aber diese waren auch bekannt als die »niedrigen« oder »gefährlichen« Inseln. Die ganze Gruppe ist einzig und allein aus Korallen aufgebaut. Sie besteht aus heimtückischen Unterwasserklippen und palmenbestandenen Atollen, die sich nur zwei bis drei Meter über die Meeresfläche erheben. Gefährliche Ringriffe schlingen sich schützend rund um jedes Atoll und bedrohen den Schiffsverkehr. So verschieden die Eilande auch sind, tote Vulkane die Marquesasinseln, flache Korallenbänke die Tuamotuatolle, so werden sie doch von der gleichen polynesischen Rasse bewohnt, und auf beiden Gruppen betrachten die Häuptlinge Tiki als ihren Stammvater.
Schon am 3. Juli - wir waren noch tausend Seemeilen von Polynesien entfernt - verriet uns die Natur selber, daß es irgendwo, weit draußen vor uns im Meer, wirklich Land geben mußte. Das hatte sie vor vielen Jahrhunderten auch den Naturmenschen aus Peru verraten. Wir waren wohl schon tausend Seemeilen von der peruanischen Küste entfernt, sichteten aber immer noch kleine Schwärme von Fregattvögeln. Nachdem wir etwa 100 Grad West erreicht hatten, tauchten sie nicht mehr auf, und wir bekamen nur mehr kleine seebewohnende Sturmvögel zu Gesicht.
Aber am 3. Juli - wir lagen ungefähr 125 Grad West - waren die Fregattvögel wieder da. Von nun an beobachteten wir fast jeden Tag kleine Schwärme, die hoch am Himmel dahinzogen oder in raschen Schwüngen sich herunterstürzten und knapp über die Wogenkämme dahinstrichen. Sie schnappten fliegende Fische, die in die Luft sprangen, um den Dolfinen zu entgehen. Nachdem die Vögel uns nicht von Amerika gefolgt waren, mußten sie auf einem anderen Land vor uns im Westen zu Hause sein.
Am 16. Juli verriet sich die Natur noch deutlicher. Da zogen wir einen neun Fuß langen Hai herauf, der einen großen, unverdauten Seestern herauswürgte. Er mußte ihn von der einen oder anderen Küste draußen im Weltmeer geholt haben.
Und schon am nächsten Tag bekamen wir den ersten ganz unanzweifelbaren Besuch von den polynesischen Inseln.
Es war ein großer Augenblick an Bord, als wir über dem Horizont im Westen zwei große Tölpel entdeckten. Kurz darauf segelten sie in niederer Höhe über unseren Mast. Mit einer Flügelspannweite von anderthalb Metern umkreisten sie uns mehrere Male. Dann falteten sie die Schwingen zusammen und ließen sich auf den Wellen an unserer Seite nieder. Die Dolfine stürzten stracks herbei und schwänzelten neugierig um die großen schwimmenden Vögel. Aber keiner der Partner rührte den anderen an. Die Tölpel waren die ersten lebendigen Boten von den Inseln, durch die uns Polynesien begrüßte und willkommen hieß. Sie kehrten am Abend nicht zurück, sondern ruhten auf der See. Nach Mitternacht noch hörten wir sie im Kreis um den Mast segeln und heiser schreien.
Die fliegenden Fische, die uns an Bord sprangen, waren jetzt auch von einer anderen und weit größeren Art. Ich erkannte sie wieder von meinen Fischzügen mit den Eingeborenen längs der Küste von Fatuhiva.
Drei Tage lang trieben wir gerade auf Fatuhiva zu. Aber dann kam ein kräftiger Nordostwind und drängte uns in Richtung auf die Tuamotuatolle. Er blies uns aus dem eigentlichen Äquatorstrom heraus, und nun war gleichsam kein rechter Schick mehr in der Strömung. Einen Tag war sie da, einen Tag war sie weg. Sie hatte sich in viele Äste gespalten, die sich wie unsichtbare Bäche über das Meer hinaus verzweigten. War die Strömung reißend, dann gab es oft starke Dünungen, und die Wassertemperatur sank häufig um einen ganzen Grad. Aus der Abweichung zwischen der von Erich täglich gemessenen und der berechneten Position konnten wir Stärke und Richtung der Strömung bestimmen.
Nun, an der Türschwelle von Polynesien, ließ uns plötzlich der Wind im Stich, und wir lagen obendrein in einem Strömungsast, der zu unserem Schrecken Kurs in Richtung auf die Antarktis hatte. Vollkommen windstill wurde es allerdings nicht. Das hatten wir auf der ganzen Reise nicht erlebt. War die Brise flau, so hißten wir alle Lappen, die wir an Bord hatten, um auch den kleinsten Luftzug auszunutzen. So kamen wir vorwärts. An keinem einzigen Tag trieben wir gegen Amerika zurück. Unsere geringste Tagesleistung war neun Seemeilen oder armselige siebzehn Kilometer, die durchschnittliche Tagesleistung immerhin zweiundvierzigeinhalb Seemeilen oder achtundsiebzigeinhalb Kilometer.
Der Passat hatte trotzdem nicht das Herz, uns knapp vor der Landung gänzlich zu verlassen. Er meldete sich wieder zum Dienst und schob und stieß die wackelige »Kon-Tiki« vor sich her. Wir hatten einen neuen Weltteil vor uns und traten zum Endspurt an.
Jeden neuen Morgen tauchten ständig größere Schwärme von Seevögeln auf, die planlos nach allen Richtungen über uns kreisten. Eines Abends aber, als die Sonne gerade ins Meer tauchen wollte, bemerkten wir, daß ein mächtiges Tempo in die Vögel gefahren war. Ohne sich um uns oder die fliegenden Fische zu kümmern, zogen sie rauschend nach Westen. Von der Mastspitze aus konnten wir sehen, daß alle, woher sie auch immer kamen, mit gleichem Kurs genau auf ein und denselben Punkt zusteuerten. Vielleicht sahen sie etwas von oben, das wir nicht ausmachen konnten. Vielleicht flogen sie auch nur nach ihrem Instinkt. Jedenfalls hatten sie einen ganz bestimmten Kurs. Sie flogen nach Hause zu der nächsten Insel, auf der sie ihre Nistplätze hatten.