Wir banden das längste Tau, das wir hatten, an unseren hausgemachten Anker und befestigten es am Fuß des Backbordmastes. So mußte die »Kon-Tiki« mit dem Heck voran in die Brandungswellen hineintreiben, wenn man den Anker über Bord warf. Der Anker selbst bestand aus leeren Wasserkanistern, gefüllt mit gebrauchten Radiobatterien und einer Sammlung unseres schwersten Plunders. Außerdem streckte er kreuz und quer solide Pfähle aus Eisenholz vor.
Vorschrift Nummer eins, das A und O war: Halte dich am Floß fest! Was immer auch geschah, wir mußten uns an Bord anklammern und die neun großen Stämme den Anprall des Riffes aufnehmen lassen. Wir selbst hatten mehr als genug mit dem Wasserdruck zu tun. Über Bord springen bedeutete ein hilfloses Opfer der Brandung zu werden, die uns hinein und heraus über die scharfen Korallen schleudern würde. Das Gummifloß würde rasch in den steilen Wasserwänden umgeworfen werden, und schwer beladen mit uns, würde es auch am Riff in Fetzen zerrissen werden. Aber die Baumstämme würden früher oder später an Land hinaufgeschleudert - und wir mit ihnen, wenn es uns nur glückte, uns festzuklammern.
Zweitens bekamen alle Mann Anweisung, zum ersten Mal nach hundert Tagen Schuhe an die Füße zu ziehen; gleichzeitig auch die Schwimmwesten klarzumachen. Das letzte war trotz allem von geringerem Wert, denn würde einer über Bord geschleudert, würde er erdrückt und nicht ertränkt werden. Es war genügend Zeit, daß wir jeder unseren Paß zu uns steckten, ebenso das wenige, was wir an Dollars übrig hatten. Vorläufig war es nicht der Zeitmangel, der unsere Probleme schuf.
Es waren spannende Stunden, in denen wir so lagen und seitlich nach und nach auf das Riff zutrieben. An Bord herrschte auffallende Ruhe. Ja, stumm und wortkarg krochen wir alle ein und aus zwischen Hütte und Bambusdeck und erledigten unsere Angelegenheiten. Die ernsten Gesichter zeigten, daß keiner im Zweifel war, was wir zu erwarten hatten. Und der Mangel an Nervosität bewies, daß alle im Lauf der Ereignisse ein unwandelbares Vertrauen zum Floß bekommen hatten. Es hatte das Meer überstanden, es würde ihm wohl auch gelingen, uns lebend an Land zu bringen.
Im Inneren der Hütte war ein einziges Chaos von Proviantkartons und festgezurrter Last. Torstein hatte halbwegs in seinem Radiowinkel Platz behalten, wo er den Kurzwellensender glücklich in Gang gesetzt hatte. Wir waren jetzt 8000 Kilometer von unserer alten Basis in Callao, wo die Seekriegsschule ständig Verbindung mit uns aufrechterhielt, und noch weiter waren wir von den Amateuren in den Vereinigten Staaten entfernt. Der Zufall wollte aber, daß wir am Tag vorher Verbindung mit einem tüchtigen Radioamateur bekommen hatten, der mit seiner Station auf Rarotonga in den Cookinseln saß. Mit ihm hatten die Funker ganz im Gegensatz zu aller gewöhnlichen Praxis eine Sonderverbindung im Morgengrauen verabredet. Und während wir nun näher und näher herein gegen das Riff trieben, saß Torstein unverdrossen und hämmerte auf seine Taste, um Rarotonga zu rufen.
Um 8.15 Uhr steht im »Kon-Tiki« Logbuch:
»Wir nähern uns langsam dem Land. Wir können jetzt mit bloßem Auge die einzelnen Palmen vor uns auf der Steuerbordseite unterscheiden.«
8.45 Uhr:
»Der Wind hat sich in eine für uns noch ungünstigere Richtung gedreht, wir haben keine Hoffnung mehr, vorbeizutreiben. Keine Nervosität an Bord, aber fieberhafte Vorbereitungen auf Deck. Innen am Riff vor uns liegt etwas, was aussieht wie das Wrack eines Segelkutters, aber vielleicht ist es nur ein Bündel Treibholz.«
9.45 Uhr:
»Der Wind treibt uns gerade auf die vorletzte Insel, die wir hinter dem Riff sehen. Wir können jetzt deutlich das ganze Korallenriff unterscheiden. Wie eine weiß und rot gesprenkelte Ringmauer ragt es etwas aus dem Wasser wie ein Gürtel um die Inseln. Das ganze Riff entlang brüllen schaumweiße Brandungswellen. Bengt serviert uns eben eine kräftige warme Mahlzeit, die letzte vor dem großen Turnier. Was da drinnen am Riff liegt, ist ein Wrack. Wir sind jetzt so nahe, daß wir quer über die ganze blanke Lagune hinter dem Riff sehen können. So können wir die Konturen von anderen Inseln auf der anderen Seite der Lagune unterscheiden.«
Jetzt näherte sich das dumpfe Dröhnen der Brandung wieder. Es kam von dem ganzen Riff vor uns und lag in der Luft wie aufwühlende Trommelwirbel vor dem spannenden Finale der »Kon-Tiki«.
9.50 Uhr:
»Wir sind sehr nahe. Treiben quer zum Riff. Nur noch wenige hundert Meter. Torstein sitzt soeben und unterhält sich mit dem Mann auf Rarotonga. Alles ist klar. Muß jetzt das Logbuch fortpacken. Wir sind alle guten Muts. Es sieht übel aus, aber es muß gehen!«
Einige wenige Minuten später raste der Anker über Bord und faßte Boden, so daß die »Kon-Tiki« herumschwenkte und den Achtersteven der Brandung zuwendete. Dies hielt uns einige kostbare Minuten, in denen Torstein wie rasend auf die Taste hämmerte. Jetzt hatte er Rarotonga. Die Brandung donnerte in der Luft, und die See ging wütend auf und nieder. Alle Mann waren auf Deck in Bewegung, und jetzt bekam Torstein seine Meldung durch. Er meldete, daß wir gegen das Raroiariff trieben. Er bat Rarotonga, auf derselben Frequenz jede volle Stunde zu horchen. Blieben wir mehr als 36 Stunden stumm, sollte man die norwegische Gesandtschaft in Washington verständigen. Torsteins letzte Worte waren: »O. K. 50 yards left. Here we go. Good bye.« Damit schloß er seinen Laden. Knut versiegelte die Papiere, und beide krochen in höchster Eile heraus auf Deck zu uns anderen, denn jetzt war keine Täuschung mehr möglich, der Anker gab nach.
Die Wellen wurden wilder und wilder, immer tiefer höhlten sich die Täler, wir fühlten, wie das Floß sich auf- und niederschwang, auf und nieder, höher und höher.
Von neuem lautete die Devise: Halte dich fest, vergiß alle Ladung, halte dich bloß fest!
Wir waren jetzt dem Wasserfall vor uns so nahe, daß wir nicht mehr das gleichmäßige Getöse von dem ganzen Riff daneben hörten. Wir vernahmen nur jedesmal das Dröhnen, wenn sich die Brandung vor uns überschlug.
Alle Mann standen bereit und klammerten sich fest an das Tau, das sie selbst für das sicherste hielten. Nur Erich kroch im letzten Augenblick in die Hütte. Es stand ein Punkt im Programm, den er noch nicht erledigt hatte - er hatte bisher seine Schuhe noch nicht gefunden!
Achteraus stand keiner, denn von hier würde der Stoß des Riffs kommen. Auch die zwei soliden Stagen von der Mastspitze nach dem Heck waren nicht sicher. Denn wenn der Mast fiel, würden sie außenbords über das Riff hängen. Hermann, Bengt und Torstein waren auf einige Kisten gekrochen, die vor der Hüttenwand festgezurrt waren, Hermann hängte sich in die Pardunen des Hüttendaches, und die beiden anderen ergriffen die Taue zur Mastspitze, an denen sonst das Segel gehißt wurde. Knut und ich wählten die Taue vom Bug hinauf in die Mastspitze, denn wenn der Mast und die Hütte und alles andere über Bord brachen, so meinten wir, daß das Tau vom Bug trotzdem über dem Floß liegen würde, nachdem die Wellen jetzt von vorne hereinschlugen.
Da es uns klar wurde, daß uns die Wellen ergriffen hatten, wurde das Ankertau gekappt, und damit ging es los. Eine See wälzte sich unter uns in die Höhe, und wir fühlten, wie sich die »Kon-Tiki« in die Luft hob. Der große Augenblick war da. Jetzt ritten wir mit den Wellenrücken hinein in rasender Fahrt, so daß es knackte und schrie in dem schlottrigen Fahrzeug. Wir fühlten, wie es sich unter uns verschob und bewegte. Die Spannung ließ das Blut kochen. Ich erinnere mich, daß ich mangels eines anderen Einfalls mit den Armen um mich schlug und mit aller Kraft meiner Lungen Hurra! brüllte. Das gab mir eine gewisse Erleichterung und konnte jedenfalls nicht schaden. Die anderen glaubten sicher, daß ich verückt geworden war, aber die Gesichter erhellten sich, und sie lachten in ihrer Erregung, alle Mann. Jetzt ging es brausend dahin, es war »Kon-Tikis« Feuertaufe, es würde und mußte gut gehen.
Aber der helle Siegesrausch bekam bald einen Dämpfer. Hinter uns erhob sich hoch eine neue See wie eine glänzende grüne Glaswand, und als wir herabsanken, wälzte sie sich hinter uns her. Im selben Augenblick sah ich sie hoch über mir, als ich schon einen furchtbaren Schlag spürte und in den Wassermassen verschwand. Ich fühlte den Zug im ganzen Körper mit einer so ungeheuerlichen Kraft, daß ich jeden einzelnen Muskel im Körper anspannen mußte und nur an eines denken konnte: Festhalten! Ich glaube, Arme und Beine können in einer solchen Situation, wenn das Resultat so sicher ist, selbständig werden, denn das Hirn hätte sich dazu verstanden, die Taue fahrenzulassen. Auf einmal spürte ich, daß der Wasserberg vorbeitrieb und seinen teuflischen Griff um den Körper lockerte. Während der Kamm mit ohrenbetäubendem Brausen und Krachen weiterraste, sah ich Knut wieder, zusammengerollt wie einen Ball, an meiner Seite hängen. Von hinten sah die große See fast flach und grau aus. Sie raste über den Dachfirst. Als sie ihn freigab, hingen hier die drei anderen gegen den Hüttengiebel gepreßt.