Zedd ließ sich schwer auf einen der am Tisch stehenden Stühle sacken. Er musste einen kühlen Kopf bewahren, sagte er sich, ehe er etwas nicht Wiedergutzumachendes tat und aus blindwütigem Zorn reagierte. Er versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was er über die Kästchen und die gegenwärtigen Geschehnisse wusste, versuchte sich an alle Verzweiflungstaten in seinem Leben zu erinnern - und es mit ihren Augen zu sehen.
Es gelang ihm nicht.
»Nicci, zurzeit weiß Richard nicht einmal, wie er von seiner Gabe Gebrauch machen kann.«
»Er wird eben eine Möglichkeit finden müssen.«
»Er hat von den Kästchen der Ordnung keine Ahnung.«
»Wir werden es ihm beibringen müssen.«
»Wir wissen doch nicht einmal selbst genug über sie. Wir wissen nicht einmal, welches das korrekte Buch der gezählten Schatten ist. Nur die korrekte Abschrift funktioniert als Schlüssel für die Kästchen.«
»Wir werden es eben herausfinden müssen.«
»Bei den Gütigen Seelen, Nicci, wir kennen ja nicht einmal Richards derzeitigen Aufenthaltsort.«
»Wir wissen, dass die Hexe ihn in der Sliph gefangen zu nehmen versucht hat und dies misslungen ist. Richards Bemerkungen lässt sich entnehmen, dass Sechs ihn vermutlich von seiner Gabe abgeschnitten hat, indem sie die Banne in den heiligen Höhlen von Tamarang zeichnete. Nach Aussage Rachels hat Sechs ihn verloren, als er von der Imperialen Ordnung gefangen genommen wurde. Nach allem, was wir wissen, könnte er ihnen mittlerweile ebenfalls entkommen und bereits auf dem Weg hierher sein. Und wenn nicht, werden wir ihn eben finden müssen.«
Offenbar konnte Zedd ihr nicht begreiflich machen, welchen Hindernissen sie sich gegenübersahen. »Was Ihr da redet, ist ein Ding der Unmöglichkeit!«
Da lächelte sie, es war ein trauriges Lächeln. »Ein mir bekannter und von mir sehr geschätzter Zauberer, der Richard zu dem gemacht hat, der er ist, brachte ihm einmal bei, stets an die Lösung zu denken und nicht an das Problem. Der Rat hat sich stets als sehr nützlich erwiesen.«
Davon wollte Zedd nichts hören. Er sprang auf. »Dazu hattet Ihr kein Recht, Nicci. Ihr habt kein Recht, über sein Leben zu entscheiden und ihn als Spieler zu benennen.«
Ihr Lächeln erlosch und gab den Blick auf die darunterliegende stählerne Härte frei. »Ich kenne Richard, ich weiß, er kämpft um sein Leben. Ich weiß, was dies für ihn bedeutet, und dass er nichts unversucht lassen würde, um den Fortbestand der Welt des Lebendigen zu sichern. Ich weiß auch, dass er, wäre er auf demselben Kenntnisstand wie ich, gewollt hätte, dass ich so handele.«
»Nicci, Ihr könnt unmögli-«
»Zedd«, fiel sie ihm herrisch ins Wort, »ich habe Euch gefragt, ob Ihr Richard Euer Leben, alles Leben, anvertrauen würdet. Das habt Ihr bestätigt. Diese Worte bedeuten etwas. Ihr habt nicht etwa verlegen herumgestottert und Euer Vertrauen zu relativieren versucht. Jemandem sein Leben anzuvertrauen, ist als Vertrauensbeweis so unmissverständlich, wie es nur sein kann.
Richard ist der Einzige, der uns in die entscheidende Schlacht führen kann. Jagang und die Imperiale Ordnung mögen eine Rolle dabei spielen, aber die eigentliche entscheidende Schlacht findet um die Macht der Ordnung statt. Dafür werden die Schwestern der Finsternis, die über die Kästchen gebieten, sorgen. Sie werden es auf die eine oder andere Weise sicherstellen. Richard kann uns nur anführen, wenn er die Kästchen im Spiel hat. Denn so wird er zur wahrhaftigen Erfüllung der Prophezeiung:
fuer grissa ost drauka - der Bringer des Todes.
Aber dies ist mehr als nur eine Prophezeiung. Eine Prophezeiung drückt lediglich aus, was wir bereits wissen, nämlich dass Richard derjenige ist, der uns bei der Verteidigung unserer hochgeschätzten Werte, jener Werte, die das Leben begünstigen, bereits angeführt hat. Richard selbst nannte die Bedingungen für diesen Kampf, als er zu den D’Haranischen Truppen sprach. Als Lord Rahl, Anführer des D’Haranischen Reiches, erklärte er den Männern, wie dieser Krieg von nun an geführt werden würde: alles oder nichts.
Anders können wir auch hier nicht vorgehen. Im Grunde seines Herzens ist Richard vollkommen aufrichtig, er würde von niemandem etwas verlangen, was er nicht auch selbst tun würde. Er ist der Kern dessen, was wir glauben. Er würde uns niemals verraten.
Wir stecken jetzt auf Gedeih und Verderb in dieser Sache drin. Es geht im wahrsten Sinne des Wortes um alles oder nichts.«
Zedd warf die Arme in die Luft. »Aber ihn als Spieler zu benennen ist nicht die einzige Möglichkeit, uns in diesem Kampf anzuführen, nicht seine einzige Erfolgschance - es könnte aber sehr wohl der Grund für sein Scheitern sein. Eure Handlungsweise könnte unser aller Untergang bedeuten.«
Ein Ausdruck von Überzeugtheit, Entschlossenheit und Zorn trat in ihre blauen Augen, der ihm klarmachte, dass sie ihn zu Asche verbrennen würde, wenn er sich dem in den Weg stellte, was sie für nötig hielt. Zum ersten Mal sah er die Herrin des Todes mit den Augen derer, die ihr im Weg gestanden und das ganze Ausmaß ihres Zorns zu spüren bekommen hatten.
»Eure Liebe für Euren Enkelsohn macht Euch blind. Er ist viel mehr als das.«
»Meine Liebe für ihn kann nich-«
Nicci wies abrupt mit gestrecktem Arm nach Osten, nach D’Hara. »Diese Schwestern der Finsternis haben die Feuerkettenreaktion ausgelöst, die sich nun ungehindert durch Euer Erinnerungsvermögen frisst. Diese Reaktion bedeutet weit mehr als nur den Verlust unserer Erinnerung an Kahlan.
Mit jedem Augenblick löst sich unser Wissen darüber auf, wer wir sind, was wir sind und sein werden. Es geht nicht nur darum, dass wir Kahlan vergessen haben. Der Mahlstrom dieses Banns wird täglich mächtiger, der Schaden nimmt exponential zu. Das volle Ausmaß unseres Verlusts ist uns überhaupt nicht bewusst, dabei geht uns mit jedem Tag mehr verloren. Unser Verstand, unsere Denkfähigkeit, ja unsere Fähigkeit zu vernunftgemäßem Handeln wird von diesem heimtückischen Bann untergraben.
Weit schlimmer, der Feuerkettenbann ist verunreinigt, wie Richard selbst uns nachgewiesen hat. Die Verunreinigung der Chimären liegt tief im Innern des Feuerkettenbanns verborgen, der jeden befallen hat, und die Verunreinigung frisst sich durch die Welt des Lebendigen. Sie zerstört nicht nur das Wesen dessen, wer und was wir sind, sondern auch das Gewebe der Magie selbst. Ohne Richard würden wir es nicht mal bemerken.
Die Welt steht nicht nur wegen Jagang und der Imperialen Ordnung am Abgrund, sondern ist im Begriff, durch das lautlose, unsichtbare Werk des Feuerkettenbanns und der darin enthaltenen Verunreinigung vernichtet zu werden.«
Nicci tippte sich mit dem Finger gegen die Schläfe. »Hat diese Verunreinigung Euch vielleicht schon der Fähigkeit beraubt zu erkennen, was auf dem Spiel steht? Eures Denkvermögens?«
»Das einzige Gegenmittel gegen die Feuerkettenreaktion sind die Kästchen der Ordnung. Zu diesem Zweck allein wurden sie erschaffen – für den Fall, dass der Feuerkettenbann jemals ausgelöst werden sollte. Das haben die Schwestern getan. Und um es unumkehrbar zu machen, haben sie die Kästchen, das Gegenmittel, ins Spiel gebracht, und sich selbst als Spielerinnen genannt. Und nun glauben sie, dass niemand sie mehr aufhalten kann. In diesem Punkt mögen sie recht haben. Ich habe Das Buch des Lebens gelesen, die Anleitung für die Funktionsweise der Macht der Ordnung. Dort steht nirgendwo, wie das Spiel, hat es einmal begonnen, noch aufzuhalten wäre. Weder können wir den Feuerkettenbann stilllegen, noch das Spiel der Ordnung aufhalten. Die Welt des Lebens ist auf dem besten Wege, außer Kontrolle zu geraten - genau wie von ihnen beabsichtigt.
Wofür kämpft Richard, wofür kämpfen wir? Sollen wir einfach alles hinschmeißen mit der Begründung, der Versuch, unsere vollkommene Vernichtung aufzuhalten, sei zu schwierig oder zu riskant? Sollen wir vor der einzigen Chance zurückscheuen, die uns bleibt, und alles aufgeben, was wirklich wichtig ist? Sollen wir zulassen, dass Jagang weiterhin jeden abschlachtet, der den Wunsch nach Freiheit verspürt? Dass die Imperiale Ordnung die Welt versklavt, die Feuerkettenreaktion ungehindert um sich greift und unsere Erinnerung an alles Gute tilgt? Dass die in diesem Bann enthaltene Verunreinigung die Magie aus der Welt verbannt? Sollen wir einfach die Hände in den Schoß legen und uns aufgeben? Sollen wir zulassen, dass Leute, deren einziges Ziel Zerstörung ist, das Ende der Welt heraufbeschwören?