Indem sie die Kästchen ins Spiel brachte, hat Schwester Ulicia die Pforte zur Macht der Ordnung aufgestoßen. Was soll Richard denn tun? Er muss die Waffen bekommen, die er braucht, um diese Schlacht zu schlagen, und genau das habe ich soeben getan.
Jetzt ist der Kampf wirklich ausgeglichen. Beide Seiten sind nun voll und ganz in diese Auseinandersetzung verwickelt, in der sich alles entscheiden wird.
In dieser Auseinandersetzung müssen wir Richard vertrauen. Es hat einmal eine Zeit vor einigen Jahren gegeben, da standet Ihr vor ähnlichen Entscheidungen. Ihr kanntet Eure Möglichkeiten, wart Euch Eurer Verantwortung und der Risiken bewusst - und der tödlichen Folgen im Falle Eurer Untätigkeit. Damals ernanntet Ihr Richard zum Sucher.«
Zedd, kaum fähig, seiner Stimme Herr zu werden, nickte. »Ja, das habe ich getan.«
»Und hat er nicht alle in ihn gesetzten Hoffnungen erfüllt und sogar noch übertroffen?«
Er konnte sein Zittern nicht mehr unterdrücken. »Ja, der Junge hat alles getan, was ich von ihm erwartet habe - und mehr.«
»Jetzt verhält es sich nicht anders, Zedd. Der Zugriff auf die Macht der Ordnung ist nicht mehr allein den Schwestern der Finsternis vorbehalten.« Sie ballte die Hand zur Faust. »Ich habe Richard eine Chance gegeben - uns allen. In diesem Sinne habe ich Richard ins Spiel gebracht, denn ich habe ihm an die Hand gegeben, was er braucht, um aus diesem Kampf siegreich hervorzugehen.«
Er sah ihr mit tränengetrübtem Blick in die Augen. Da war noch etwas anderes außer Entschlossenheit, Aufgebrachtheit und Unbeugsamkeit. In ihren blauen Augen erblickte er einen Hauch von Angst.
»Und ...?«
Sich wich zurück. »Was, und?«
»So erschöpfend Eure Argumentation sein mag, da ist noch etwas anderes, etwas, das Ihr mir bislang verschwiegen habt.«
Nicci wandte sich ab, strich mit den Fingern einer Hand über die Tischplatte, über die mit ihrem Blut gezeichneten Banne, für deren Beschwörung sie ihr Leben riskiert hatte.
Ihm den Rücken zugewandt, machte sie eine vage Geste, eine verlegene, knappe Handbewegung, aus der unvorstellbare Seelenqual sprach.
»Ihr habt recht«, sagte sie schließlich mit einer Stimme, deren Beherrschung ihr jeden Moment zu entgleiten drohte. »Ich habe Richard noch etwas anderes gegeben.«
Einen Moment lang stand Zedd da und betrachtete die Frau, die ihm den Rücken zugekehrt hatte. »Und das wäre?«
Sie drehte sich um. Eine Träne rann langsam über ihre Wange.
»Ich habe ihm soeben die einzige Chance gegeben, die Frau zurückzugewinnen, die er liebt. Die Kästchen der Ordnung sind das einzige Gegenmittel gegen den Feuerkettenbann, der ihm Kahlan genommen hat. Wenn er sie wiederhaben will, geht dies nur mithilfe dieser Kästchen. Ich habe ihm die einzige Chance gegeben, die ihm bleibt, um das zurückzubekommen, was er am Leben liebt.«
Zedd sank auf seinen Stuhl zurück und verbarg das Gesicht in seinen Händen.
5
Mit steif durchgedrücktem Rücken verfolgte Nicci, wie Zedd vor ihren Augen auf den Stuhl sank und in seine Hände weinte. Aus Angst, die Beine könnten unter ihr nachgeben, drückte sie die Knie aneinander, fest entschlossen, nicht die Beherrschung zu verlieren und in Tränen auszubrechen.
Fast wäre es ihr gelungen.
Als sie die Macht der Ordnung beschwor und die Kästchen in Richards Namen ins Spiel brachte, hatte diese Macht etwas mit ihr angestellt. Sie hatte, in gewisser Weise, dem durch den sie infizierenden Feuerkettenbann ausgelösten Schaden entgegengewirkt. Nachdem sie mit Richards Ernennung zum Spieler dann die Verbindung zu jener Macht vollendet hatte, war sie sich der Existenz Kahlans schlagartig bewusst geworden.
Nicht etwa durch die Wiederherstellung ihrer Erinnerung an sie -die war unwiederbringlich verloren -, sondern durch ein simples Wiederverbinden mit der Wirklichkeit ihrer Existenz, mit dem Hier und Jetzt.
Eine halbe Ewigkeit war Nicci im Glauben gewesen, Richards Überzeugtheit von der Existenz einer Frau, an die sich niemand erinnerte, sei nichts weiter als eine Selbsttäuschung. Selbst später noch, nachdem er das Feuerkettenbuch gefunden und ihnen nachgewiesen hatte, was tatsächlich passiert war, hatte Nicci ihm zwar geglaubt, doch fußte dieser Glaube auf ihrem Glauben an seine Person und die von ihm entdeckten Tatsachen. Es war eine rationale Erkenntnis, die allein auf mittelbaren Indizien beruhte.
Mit ihrer Erinnerung oder Wahrnehmung hatte das nichts zu tun. Sie besaß keine persönliche Erinnerung an Kahlan, auf die sie sich hätte stützen können, nur Richards Wort und die vorliegenden Beweise. Jetzt aber war sie sicher, dass Kahlan tatsächlich existierte. Und dies bedeutete, dass Kahlan für sie nicht länger unsichtbar war. Sie würde sie wahrnehmen können, wie jeden anderen auch. Der Feuerkettenbann befand sich noch in ihr, doch die Macht der Ordnung hatte ihm teilweise entgegengewirkt und die fortlaufende Schädigung zum Erliegen gebracht, was ihr eine Erkenntnis der Wahrheit ermöglichte. Ihre Erinnerung an Kahlan war noch nicht lebendig, Kahlan selbst dagegen schon.
Somit wusste sie auch, dass Richards Liebe echt war. Seinetwegen verspürte sie einen schmerzhaft freudigen Stich in ihrem Herzen, auch wenn sie aufgrund ihrer Gefühle für Richard keinen Anlass hatte. Cara kam, stellte sich neben sie und tat etwas, das Nicci von einer MordSith niemals erwartet hätte: Sie legte sachte einen Arm um ihre Hüfte und drückte sie an sich.
Zumindest hätte sich vor Richards Erscheinen keine Mord-Sith so verhalten. Mit ihm war alles anders geworden. Richards leidenschaftliche Liebe zum Leben hatte sie beide von der Schwelle des Wahnsinns gerettet. Und nun einte die beiden ein einzigartiges Verständnis für ihn, eine besondere Verbundenheit, die niemand sonst, nicht einmal Zedd, wirklich zu würdigen vermochte.
Zudem vermochte niemand außer Cara in diesem Moment Niccis Opfer zu begreifen.
»Ihr habt richtig gehandelt, Nicci«, sagte Cara leise. Zedd erhob sich. »Ja, das hat sie. Tut mir leid, meine Liebe, aber ich war unverzeihlich hart zu Euch. Ihr habt Euch das alles wirklich genau überlegt, das sehe ich jetzt. Ihr habt getan, was Ihr für richtig hieltet, und, wie ich zugeben muss, das unter diesen Umständen einzig Sinnvolle. Ich entschuldige mich für meine vorschnellen Verurteilungen. Aber meine Befürchtungen über die mit dem Gebrauch der Macht der Ordnung verbundenen Gefahren waren nicht unbegründet - immerhin weiß ich vermutlich mehr darüber als jeder andere Zeitgenosse. Ich habe sogar gesehen, wie Darken Rahl die Magie der Ordnung beschwor, weshalb ich eine etwas andere Sicht der Dinge habe als Ihr.
Auch wenn ich nicht unbedingt vollkommen einer Meinung mit Euch bin, war Euer Vorgehen eine sehr kluge und mutige, wenn auch aus Verzweiflung geborene Tat. Verzweiflungstaten mit unglaublich dürftigen Erfolgsaussichten sind auch mir nicht fremd, daher bin ich bereit einzusehen, dass sie mitunter unumgänglich sind.
Ich hoffe, Ihr habt richtig gehandelt. Das wünsche ich mir jedenfalls, auch wenn das bedeuten würde, dass ich mich getäuscht hätte.
Aber das spielt jetzt keine Rolle, getan ist getan. Ihr habt die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht und Richard als Spieler genannt. Wie immer ich darüber denken mag, bezüglich unserer Ziele sind wir alle einer Meinung. Da es ohnehin nicht mehr zu ändern ist, müssen wir nach Kräften dafür sorgen, dass es funktioniert. Wir müssen Richard nach bestem Vermögen unterstützen. Scheitert er, scheitern wir alle, und das Leben wird versiegen.«