»Ich habe alle Schilde aktiviert«, erklärte Zedd ihr. »Die Eingänge zur Burg sind versiegelt. Wäre irgendjemand unbefugt eingedrungen, würden im ganzen Gebäude die Warnzeichen losschrillen, und wir müssten uns alle die Ohren zuhalten, bis der Auslöser gefunden wäre.«
»Es gibt mit der Gabe Gesegnete, die sich in diesen Dingen auskennen«, gab Nicci zu bedenken.
Zedd musste nicht lange überlegen. »Da ist etwas dran. Angesichts der Geschehnisse und der vielen Dinge, über die wir noch nichts wissen, können wir nicht vorsichtig genug sein. Vermutlich wäre es also keine schlechte Idee, wenn Ihr ein Auge auf das Kästchen halten würdet.«
Nickend folgte ihnen Nicci durch die Tür nach draußen. »Sagt mir Bescheid, sobald die Luft rein ist.«
Der hohe Gang draußen war zwar kaum mehr als ein Dutzend Fuß breit, erhob sich über ihren Köpfen aber beinahe bis außer Sichtweite. Hier, in den unteren Gefilden der Burg, bildete der Durchgang einen langen, schmalen Riss tief im Innern des Berges. Linker Hand befand sich eine Wand aus natürlichem Fels, gemeißelt aus dem Muttergestein des Berges. Selbst jetzt, nach Tausenden von Jahren, waren noch die Spuren der Schlagwerkzeuge zu erkennen.
Die Wand auf der Seite mit den Räumlichkeiten bestand aus gewaltigen, lückenlos eingepassten Steinquadern, die sich bis zu einer Höhe von sechzig oder mehr Fuß erhoben. Dieser scheinbar deckenlose Spalt im Innern des Berges bildete einen Teil der Grenze des Eindämmungsfeldes. Die innerhalb dieses Feldes liegenden Räume erstreckten sich entlang des äußersten Randes der Burg, die sich wiederum über dem Felsgestein des Berges erhob.
Nicci folgte den anderen nur ein kurzes Stück in den scheinbar endlosen Gang hinein und behielt sie im Auge, bis sie den ersten Quergang erreicht hatten.
»Für Schlampereien und Nachlässigkeiten ist dies nicht der rechte Augenblick«, rief sie ihnen hinterher. »Dafür steht zu viel auf dem Spiel.«
Zedd nahm ihre Ermahnung mit einem Nicken zur Kenntnis. »Sobald ich mir ein Bild gemacht habe, kommen wir zurück.«
Cara sah über ihre Schulter. »Seid unbesorgt, ich bin ja bei ihm -und ich bin nicht in der Stimmung für Nachlässigkeiten. Meine Laune wird sich wohl erst wieder bessern, wenn ich Lord Rahl lebend wiedersehe und in Sicherheit weiß.«
»Ihr wisst, was gute Laune ist?«, fragte Zedd, während sie mit schnellen Schritten losmarschierten.
Cara sah ihn verständnislos an. »Ich bin sehr oft liebenswürdig und gut gelaunt. Wollt Ihr etwa das Gegenteil andeuten?«
Zedd warf die Hände in die Luft und gab sich geschlagen. »Nein, nein.
Gut gelaunt beschreibt Euch durchaus passend.«
»Na schön.«
»Tatsächlich sogar noch etwas passender als blutrünstig.«
»Wenn ich es mir recht überlege, gefällt mir blutrünstig sogar noch ein bisschen besser.«
Nicci vermochte den fröhlichen Geist dieser Hänseleien zwischen den beiden nicht recht zu teilen. Es war ihr nicht gegeben, Menschen zum Lachen zu bringen. Außerdem kannte sie die Leute, die es auf sie abgesehen hatten und zu denen sie einst selbst gehört hatte, sowie ihr vollkommen gefühlloses Wesen, so dass sie das Gefühl hatte, nicht weniger ernsthaft vorgehen zu dürfen als sie.
Sie sah Zedd, Cara und Rikka hinterher, als diese den ersten Gang entlangeilten, Richtung Treppe.
Während sie die Stufen hinaufgingen, begriff Nicci plötzlich das Geräusch, die Vibration, die sie gespürt hatte.
Es war tatsächlich eine Art Warnsignal.
Jetzt wusste sie auch, warum Rikka es nicht hatte einschätzen können. Sie hatte den Mund bereits geöffnet, um den anderen etwas zuzurufen, als die Welt mit einem knirschenden Ruck anzuhalten schien.
Eine dunkle Wolke ergoss sich aus dem Treppenschacht, eine aus Millionen von Einzelpunkten bestehende Nachbildung einer sich mitten in der Luft drehenden, windenden, mal dünner und mal dicker werdenden Schlange, die unter gewaltigem Getöse die Treppe herabgeschossen kam. Das dröhnende, flatternde Rumpeln war ohrenbetäubend.
Tausende von Fledermäusen kamen um die Ecke geschossen, ein mächtiger, in der Luft schwebender Lindwurm, ein lebendiges Etwas aus Unmengen dieser zierlichen Lebewesen. Der Anblick so vieler Einzelwesen, verschmolzen zu einer einzigen, sich bewegenden Form, war fesselnd. Das Getöse hallte von den Wänden wider und füllte den Spalt im Berg mit chaotischem Getöse. Die Fledermäuse waren offenbar von Panik ergriffen, als sich ihre miteinander verschmelzenden Formen auf der Flucht vor irgendetwas überhastet um die Ecke wanden. Zedd, Cara und Rikka waren gleich auf den ersten Treppenstufen wie erstarrt stehen geblieben.
Dann waren die fliehenden Fledermäuse fort, vor sich hergescheucht von irgendeinem Grauen, das sie durch die Burg verfolgte. Zurück blieb ein leises Flattern, dessen gedämpfte Warnung noch in den Fluren widerhallte, als die Fledermäuse bereits in einem entlegeneren Winkel Schutz suchten.
Es war das ferne Geräusch, das Rikka gehört, aber nicht zu deuten gewusst hatte.
Nicci, den Blick starr auf das Treppenhaus gerichtet, aus dem die Fledermäuse hervorgekommen waren, hatte das Gefühl, in einem erwartungsvollen Moment der Stille gefangen zu sein. Sie wartete darauf, endlich wieder aufatmen zu können, wartete auf etwas Unvorstellbares. Mit einem Gefühl aufkommender Panik erkannte sie, dass sie sich nicht von der Stelle rühren konnte.
Und dann kam ein dunkler Schatten wie ein übler Wind die Stufen herabgefegt und schien doch gleichzeitig bewegungslos in der Luft zu stehen. Es war, als bestünde er aus wirbelnden schwarzen Formen und zerfließenden dunklen Schatten, die einen tiefschwarzen Strudel aus Düsterkeit erzeugten. Seine schwindelerregende Form, die sich ineinander verflechtenden Ströme aus Dunkelheit - alles vermittelte den Eindruck von nicht vorhandener Bewegung. Ein Augenzwinkern später war er verschwunden.
Mit Nachdruck unternahm Nicci einen neuerlichen Versuch, sich von der Stelle zu bewegen, doch es war, als wäre sie in warmes Wachs gegossen. Sie konnte behutsam Luft holen und sich vorwärtsbewegen, wenn auch nur unvorstellbar langsam. Jeder Zoll erforderte eine immense Kraftanstrengung und schien eine Ewigkeit zu dauern. Die Welt war unglaublich zähflüssig geworden, während gleichzeitig alles allmählich zum Erliegen kam.
Dann zeigte sich die Gestalt erneut, diesmal im Durchgang unmittelbar hinter den anderen im Gang am Fuß der Treppe, wo sie über dem steinernen Boden in der Luft zu schweben schien. Sie sah aus wie eine unter Wasser dahintreibende Frau in einem fließenden schwarzen Kleid. Trotz ihres wachsenden Entsetzens fand Nicci den exotischen Anblick seltsam faszinierend. Die anderen, die der Eindringling längst passiert hatte, waren beim Emporsteigen der Treppe mitten im Schritt so regungslos erstarrt, als wären sie gemalt.
Das drahtige Haar der Frau umspülte träge ihr blutleeres Gesicht. Der lose Stoff ihres schwarzen Kleides wirbelte herum wie in einem Wasserstrudel. Die Frau inmitten dieser wirbelnden Bewegung schien beinahe regungslos.
Der Anblick ähnelte nichts so sehr wie einer in trübem Wasser treibenden Frau.
Dann war die Gestalt ein weiteres Mal verschwunden. Nein, nicht im Wasser, erkannte Nicci.
In der Sliph.
Genau so hatte sie sich auch gefühlt. Es war dasselbe seltsame, jenseitig schwebende Gefühl des Dahintreibens, unfassbar langsam und doch irrwitzig schnell.
Plötzlich erschien die Gestalt erneut, näher diesmal. Nicci versuchte zu rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Sie versuchte, ihre Arme zu heben, um ein Netz zu wirken, trieb aber zu langsam. Ihr war, als würde das bloße Heben eines Arms den ganzen Tag in Anspruch nehmen.