Ehe sie es merkte, ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, waren ihre Beine bereits in Bewegung. Fast war es, als besäßen sie einen eigenen Willen. Ein, zwei Schritte jenseits des Unterholzes fing sie an zu rennen und sauste über das offene Gelände Richtung Pferd. Aus dem Augenwinkel erhaschte sie einen Blick auf den Mann, als dieser sich plötzlich im hohen Gras aufrichtete. Wie vermutet, hatte er geschlafen. Mit seiner Lederweste und den nietenbesetzten Riemen mit den Messern darin sah er aus wie einer dieser Krieger der Imperialen Ordnung. Er schien allein zu sein, befand sich womöglich auf einem Erkundungsritt. So hatte Chase es ihr beigebracht: Waren Söldner der Imperialen Ordnung allein unterwegs, handelte es sich vermutlich um Kundschafter.
Eigentlich war es ihr egal, sie wollte nichts weiter als das Pferd. Vielleicht, schoss es ihr durch den Kopf, sollte sie sich vor ihm fürchten, aber so war es nicht. Das Einzige, was ihr Angst machte, war die Vorstellung, das Pferd nicht zu bekommen und somit wertvolle Zeit zu verlieren. Der Mann warf seine Decke zur Seite, sprang auf und rannte stolpernd los, so schnell ihn seine Beine trugen. Er holte rasch auf, doch Rachels Beine waren während des Sommers lang geworden, und sie war eine gute Läuferin. Der Soldat schrie ihr etwas zu. Sie achtete gar nicht auf ihn und hielt auf die braune Stute zu.
Er schleuderte einen Gegenstand in ihre Richtung. Sie sah ihn an ihrer linken Schulter vorbeizischen - ein Messer. Ein unsinniger Versuch aus dieser Entfernung - werfen und beten, wie Chase es nannte. Er hatte ihr beigebracht, konzentriert zu zielen, hatte ihr überhaupt eine Menge über Messer beigebracht. So wusste sie zum Beispiel auch, dass ein bewegliches Ziel mit dem Messer nur äußerst schwer zu treffen war. Sie hatte sich nicht getäuscht. Das Messer verfehlte sie um ein gutes Stück und blieb mit einem leisen Plopp in einem umgestürzten Baumstamm stecken, der neben dem Weg zwischen ihr und dem Pferd lag. Im Vorüberlaufen zog sie es aus dem morschen Stamm und schob es, während sie allmählich ihre Schritte drosselte, in ihren Gürtel. Jetzt gehörte es ihr. Chase hatte ihr beigebracht, wann immer möglich die feindlichen Waffen an sich zu nehmen und bereit zu sein, sie auch zu gebrauchen - erst recht, wenn sie den eigenen überlegen waren. In einer Situation auf Leben und Tod durfte man nicht wählerisch sein.
Nach Luft schnappend lief sie unter der Schnauze des Tieres hindurch und griff nach den losen Zügelenden, doch die waren an einem Ast des umgestürzten Stammes festgebunden. Mit ihren von der Kälte tauben Fingern versuchte sie den festen Knoten hektisch nestelnd zu entwirren, doch sie glitten immer wieder am Leder ab. Sie hätte vor Verzweiflung schreien mögen, riss aber immer weiter daran, um den Knoten aufzuziehen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Kaum hatte sie die Zügel entwirrt, raffte sie sie in einer Hand zusammen.
Erst jetzt bemerkte sie nicht weit entfernt den Sattel. Als der Soldat sie erneut anschrie und mit wüsten Beschimpfungen überhäufte, blickte sie auf. Er kam rasch näher. Ihr bliebe nicht annähernd genug Zeit, um das Pferd zu satteln. Neben dem Sattel selbst lehnten Satteltaschen – vermutlich vollgestopft mit Vorräten.
Sie schob ihren Arm unter den flachen Lederstreifen, der die beiden Hälften miteinander verband, und tauchte unter dem Hals des aufgeschreckten Tieres hindurch.
Auf der anderen Seite angekommen, griff sie mit der Hand in seine Mähne und hielt sich daran fest, um sich auf den bloßen Rücken des Tieres zu hieven. Die Satteltaschen waren schwer, und beinahe hätte sie sie fallen lassen, doch sie hielt sich fest und konnte sie hinter sich nach oben ziehen. Das Tier war zwar ungesattelt, trug aber wenigstens sein Zaumzeug. Irgendwo in einem entlegenen Winkel ihres Verstandes vermerkte sie angenehm seine Körperwärme.
Sie legte die schweren Satteltaschen vor ihre Beine, quer über den Widerrist des Pferdes. Bestimmt enthielten sie Wasser sowie etwas zu essen, was sie beides dringend benötigte, wenn sie weiter durchhalten wollte. Vermutlich würde es ein langer Ritt werden. Schnaubend warf das Tier den Kopf. Rachel hatte sich selbstredend nicht die Zeit nehmen können, das Tier zuzureiten, wie Chase es ihr beigebracht hatte. Es rechts und links mit den Zügeln bearbeitend, bohrte sie ihm die Fersen in die Rippen. Das Tier, durch seinen neuen Reiter verunsichert, tänzelte zur Seite. Ein Blick über ihre Schulter ergab, dass der Mann sie beinahe eingeholt hatte. Eine Hand fest in die Mähne des Tieres gekrallt, in der anderen die Zügel, beugte sie sich vor und bohrte ihm die Fersen in die Seite, weiter hinten diesmal. Das Tier schoss in vollem Galopp davon.
Einen Fluch ausstoßend, unternahm der Soldat einen ungestümen Versuch, das Zaumzeug zu fassen zu bekommen, doch Rachel verriss die Zügel seitlich, und das Pferd gehorchte. Der Soldat verfehlte sie und landete, unter der Wucht des Aufpralls ächzend, auf dem Boden. Als er die donnernden Hufe plötzlich so dicht vor sich sah, schlug seine Wut um in Angst. Mit einem Aufschrei wälzte er sich zur Seite und entging so dem Niedergetrampelt werden nur um Haaresbreite.
Rachel empfand kein Gefühl des Triumphs; das Einzige, was sie spürte, war der Zwang, sich zu beeilen und in südöstlicher Richtung zu fliehen. Das Pferd gehorchte.
Sie lenkte die dahinschießende Stute zum Bachlauf auf der anderen Seite der grasbewachsenen Lichtung. Die Bäume nahmen sie auf, als sie den breiten, flachen Wasserstreifen hinauf jagten. Wasser spritzte auf, das kieselige Geläuf schien der Gangart des Tieres entgegenzukommen. Chase hatte ihr beigebracht, wie man mithilfe von Wasser seine Spuren verbarg.
Jeder Galoppschritt brachte sie einen Schritt näher an ihr Ziel, und nur darauf kam es jetzt an.
7
Als der an den Wagen vorbeigehende Soldat ihnen die hartgekochten Eier zuwarf, versuchte Richard, so viele wie möglich aufzufangen. Nachdem er etliche vom Boden aufgeklaubt und in seiner Armbeuge verstaut hatte, krabbelte er wieder unter den Wagen, um sich vor dem Regen in Sicherheit zu bringen. Als Unterschlupf war es nur ein kalter, jämmerlicher Notbehelf, aber immer noch besser, als im Regen zu hocken.
Kaum hatte er seine Beute an Eiern eingesammelt, huschte auch Johnrock, die Kette hinter sich herschleppend, wieder unter das andere Wagenende.
»Schon wieder Eier«, beschwerte er sich angewidert. »Das ist alles, was sie uns zu essen geben. Eier!«
»Könnte schlimmer sein«, bemerkte Richard.
»Wie denn?« Johnrock schien alles andere als glücklich über seine Kost. Richard wischte die Eier an seiner Hose ab und versuchte, die Schalen so gut es ging vom Schlamm zu befreien. »Sie könnten York an uns verfüttern.«
Johnrock musterte ihn stirnrunzelnd. »York?«
»Deinen Mannschaftskameraden, der sich das Bein gebrochen hat«, setzte Richard erklärend hinzu, während er daranging, eines seiner Eier zu pellen. »Den Schlangengesicht umgebracht hat.«
»Ach, diesen York.« Johnrock überlegte einen Moment. »Glaubst du wirklich, diese Typen essen Menschen?«
Richard sah ihn an. »Wenn ihnen die Lebensmittel ausgehen, werden sie dazu übergehen, die Toten zu verspeisen. Und wenn ihnen die ebenfalls ausgehen und sie hungrig genug sind, werden sie eben eine neue Ernte einfahren.«
»Glaubst du denn, dass ihnen die Lebensmittel ausgehen werden?«
Richard war sich dessen sogar sicher, mochte es aber nicht offen aussprechen. Er hatte den D’Haranischen Truppen Anweisung gegeben, nicht nur sämtliche Nachschubkonvois aus der Alten Welt zu zerstören, sondern diese auch ihrer Fähigkeit zu berauben, ihre gewaltige, in den Norden einfallende Invasionsstreitmacht mit Nachschub zu versorgen.
»Ich meinte lediglich, dass es schlimmer sein könnte als diese Eier.«