Nach dem Typ von Kriegern zu urteilen, konnte es sich um niemand anderen als den Kaiser und sein Gefolge handeln. Er erkannte die kaiserliche Leibgarde vom Vortag wieder, als sie bei ihrem Einzug in das Lager unmittelbar an Jagang vorübergekommen waren. Bei dieser Gelegenheit hatte er auch Kahlan kurz gesehen. Mit ihren Kettenhemden, der Lederkleidung und den hervorragend gearbeiteten Waffen wirkte die kaiserliche Garde beeindruckend, wirklich beängstigend jedoch waren ihre schiere Körpergröße und ihre hervortretenden, regennassen Muskeln.
Es waren Männer, die es schafften, sogar unter den brutalen regulären Truppen der Imperialen Ordnung Angst und Schrecken zu verbreiten. Die regulären Soldaten machten ihnen weiträumig Platz. Richard konnte sich nicht vorstellen, dass sie auch nur die geringste Kleinigkeit duldeten, die in ihren Augen eine mögliche Gefahr für den Kaiser darstellte. Johnrock stellte sich zu den übrigen Männern, die für die kaiserliche Inspektion in einer Linie angetreten waren.
Dann erblickte er inmitten seiner muskelbepackten Leibgarde den kahlrasierten Schädel Jagangs, und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.
Jagang würde ihn wiedererkennen.
Er hatte sich als Traumwandler im Verstand mehrerer Personen befunden und Richard mit deren Augen gesehen.
Welch unfassbare Nachlässigkeit, nicht daran gedacht zu haben, dass Jagang, wenn er gegen dessen Mannschaft spielte, um in Kahlans Nähe zu gelangen, ebenfalls zugegen sein und ihn wiedererkennen würde. In seiner Aufregung über die Vorstellung, sie endlich wiederzusehen, hatte er diese Möglichkeit nicht einmal in Betracht gezogen.
Dann bemerkte er noch jemanden - eine Schwester.
Dem Aussehen nach konnte es Schwester Ulicia sein, aber wenn es sich so verhielt, dann war sie seit ihrer letzten Begegnung schwer gealtert. Sie war etwas weiter entfernt, am hinteren Ende der Gruppe von Gardisten, die Jagang folgten, trotzdem konnte er ihre abgespannten Gesichtszüge erkennen. Bei ihrer letzten Begegnung war sie noch eine attraktive Frau gewesen, wenngleich er das Äußere einer Person nur schwer von ihrer Persönlichkeit zu trennen vermochte, und Schwester Ulicia war eine üble Person. Ein korrupter Charakter beeinflusste seine Bewertung eines Menschen so sehr, dass er dessen äußerliche Attraktivität nicht mehr von seinem üblen Wesen zu trennen vermochte.
Nicht zuletzt aus diesem Grund erschien Kahlan ihm so wunderschön – nicht nur wegen ihrer betörenden Attraktivität, sondern weil sie in jeder Hinsicht vorbildhaft war. Klugheit und Einsicht waren bei ihr ebenso ausgeprägt wie ihre leidenschaftliche Lebenslust. Ihr einnehmendes Äußeres schien das perfekte Spiegelbild all ihrer anderen Charakterzüge. Schwester Ulicia hingegen schien ihrer einstigen körperlichen Attraktivität zum Trotz nur noch ein Abbild ihres verdorbenen Innenlebens zu sein.
In diesem Moment dämmerte Richard, dass nicht nur sie und Jagang ihn wiedererkennen würden, sondern dass sich auch noch andere Schwestern im Feldlager befinden mussten, die ihn kannten.
Schlagartig fühlte er sich überaus verwundbar. Jederzeit konnte ihm eine von ihnen zufällig über den Weg laufen, ohne dass er eine Möglichkeit hätte, sich zu verstecken.
Eine Vision der Hexe Shota blitzte vor seinem inneren Auge auf, und ihm wurde speiübel. Es war die Vision einer Hinrichtung, und es hatte, genau wie jetzt, geregnet. Kahlan war ebenfalls dabei gewesen. Unter Tränen hatte sie voller Entsetzen mit ansehen müssen, wie man ihn zwang, mit auf den Rücken gebundenen Händen im Morast niederzuknien. Dann war von hinten ein hünenhafter Rohling gekommen, hatte mit den Worten, er werde Kahlan für sich selbst beanspruchen, ein langes Messer gezückt und ihm mit einem mächtigen Ruck die Kehle durchgeschnitten. Richard ertappte sich dabei, wie er sich an den Hals fasste, so als wollte er seine Hand schützend über die klaffende Wunde dort legen. Er schnaufte vor Panik.
Eine heiße Woge von Übelkeit stieg in ihm hoch. Würde Shotas Vision in diesem Moment in Erfüllung gehen? War es das, wovor sie ihn gewarnt hatte? War dies der Tag, an dem er sterben würde?
Es ging alles viel zu schnell. Er war nicht vorbereitet. Wie hätte er das auch anstellen sollen?
»Rüben! Hierher!«, brüllte Kommandant Karg.
Richard hatte Mühe, seine Empfindungen in den Griff zu bekommen. Er atmete einmal tief durch und versuchte sich zu beruhigen, während er sich in Bewegung setzte. Weigerte er sich, würde die Situation nur noch schneller unangenehm werden.
Nicht weit entfernt war eine Personengruppe vor der nächsten Mannschaft in der Reihe stehen geblieben. Wegen des rauschenden Regens konnte Richard nur das Gemurmel ihrer Stimmen hören. Sein Verstand raste, während er fieberhaft überlegte, wie er verhindern konnte, dass Jagang ihn wiedererkannte. Sich hinter den anderen zu verstecken? Kam nicht in Frage. Er war die Angriffsspitze, der Spieler, den Jagang würde kennenlernen wollen.
Und dann erhaschte er einen Blick auf Kahlan.
Er bewegte sich wie im Traum. Die ganze Gruppe rings um sie und den Kaiser machte Anstalten, sich ihm und seiner Mannschaft zuzuwenden. Er wusste, er musste nach oben zu den anderen Männern, und so schickte er sich an, über die an Johnrocks Halsring befestigte Kette hinwegzusteigen. In diesem Moment hatte er eine Eingebung. Er lief ein, zwei schnelle Schritte, verhakte sich absichtlich mit dem Fuß in der Kette und landete mit dem Gesicht voran im Morast.
Kommandant Karg schoss die Zornesröte ins Gesicht. »Rüben - du ungeschickter Tölpel! Auf die Beine mit dir!«
Richard rappelte sich im selben Moment auf, als Jagangs Leibgarde sich für den Kaiser zu teilen begann. Aufrecht stellte er sich neben Johnrock und wischte sich den Schlamm aus den Augen.
Er blinzelte, um etwas erkennen zu können, und in diesem Moment fiel sein Blick auf Kahlan. Sie ging unmittelbar hinter Jagang, das Gesicht teilweise verdeckt von der Kapuze ihres Umhangs, die sie als Schutz gegen den Regen hochgeschlagen hatte. Jede Bewegung ihres Körpers war ihm vertraut. Niemand sonst bewegte sich wie sie.
Als ihre Blicke sich begegneten, war ihm, als würde sein Herz aussetzen. Er musste an ihre erste Begegnung denken, als sie in ihrem weißen Kleid so nobel ausgesehen hatte. Ohne ein einziges Wort hatte sie ihm direkt in die Augen gesehen - mit einem Blick, der zugleich fragend und auf der Hut war, und der ihm sofort und unmissverständlich ihre Intelligenz bewiesen hatte. Nie zuvor hatte er eine so ... kühne Erscheinung gesehen. Wahrscheinlich hatte er sich gleich in diesem ersten Augenblick in sie verliebt, mit dem ersten Blick in ihre wunderschönen grünen Augen. Damals war er sicher gewesen, mit diesem ersten Blick bis auf den Grund ihrer Seele geschaut zu haben.
Dies alles war auch jetzt vorhanden, vermischt mit einem Anflug sorgenvoller Verwirrtheit. Seine Art, sie anzustarren, ihr mit dem Blick zu folgen, musste ihr verraten, dass er sie sehen konnte, doch als Opfer des Feuerkettenbanns konnte sie keine Erinnerung daran haben, wer er war, oder auch nur, wer sie selbst war. Niemand außer Richard und den Schwestern, die sie gefangen genommen und den Feuerkettenbann ausgelöst hatten, erinnerte sich an sie. Auf Jagang hatte der Bann offenbar keine Wirkung, was vermutlich mit seiner Verbindung zu den Schwestern zusammenhing. Für alle anderen hingegen war Kahlan praktisch unsichtbar.
Sie hatte jedoch bemerkt, dass er sie sehen konnte, was in der durch den Bann erzeugten Abgeschiedenheit ungeheuer wichtig und bedeutsam für sie sein musste. Ihr Gesichtsausdruck schien das zu bestätigen. Ehe Jagang auch nur annähernd nahe genug war, um die Mannschaft in Augenschein zu nehmen, kam ein Mann rufend auf die Gruppe zugerannt. Die Art und Weise des Kaisers, ihn zu sich zu winken, ließ darauf schließen, dass er bestens bekannt war. Die Gardisten teilten sich, als er sich einen Weg durch den inneren Schutzring bahnte. Wegen seiner bescheidenen, nur aus einigen Messern bestehenden Bewaffnung nahm Richard an, dass es sich um einen Boten handelte. Er war außer Atem, schien aber in großer Eile.