Als er sich bis zum Kaiser vorgearbeitet hatte, beugte er sich vor und redete mit aufgeregter, aber leiser Stimme auf ihn ein. Dann wies er über das Lager hinweg zu der Stelle, wo die Rampe errichtet wurde. Kahlan löste ihren Blick von Richard und sah zu dem auf Jagang einredenden Mann hinüber.
Richard musterte einen Trupp anderer, näher stehender Wachen, die sie umringten. Das waren keine Angehörigen der kaiserlichen Leibgarde, vielmehr schienen sie sehr darauf bedacht, diesen eindrucksvollen Männern nicht in die Quere zu kommen. Ihre Waffen waren minderwertig, sie trugen weder Kettenhemden noch Rüstung, und ihre Kleider schienen aus einem Sammelsurium gefundener, irgendwie an die übrige Armee erinnernder Fetzen zu bestehen. Trotz ihrer Größe, ihrer Jugend und Kraft, konnten sie sich nicht mit der kaiserlichen Garde messen. Eher erinnerten sie an gewöhnliche Schläger. In diesem Moment dämmerte es ihm, dass dies nur Kahlans Bewacher sein konnten.
Anders als die Leibwächter Jagangs, die ihrer Gegenwart keinerlei Beachtung zu schenken schienen, schauten diese oft zu Kahlan hin und behielten jede ihrer Bewegungen im Blick, was nur eins bedeuten konnte:
Diese Männer konnten sie sehen. Irgendwie war es Jagang gelungen, Männer aufzutreiben, die von dem Bann nicht betroffen waren. Zunächst verwirrt, wie so etwas möglich sein sollte, erkannte er schließlich, dass es durchaus einen Sinn ergab. Wie die Welt der Magie im Ganzen, war der Feuerkettenbann durch die Chimären verunreinigt worden. Dadurch hatte die Magie ihre Funktionsfähigkeit eingebüßt, denn der Zweck der Chimären bestand eben darin, sie zu vernichten. Aufgrund des Makels, den ihre Anwesenheit in der Welt hinterlassen hatte, war der Feuerkettenbann seinem Wesen nach selbst fehlerhaft. Richard hatte diesen Fehler in seiner Struktur bemerkt, als Zedd und Nicci das Prüfnetz ausführten.
Wegen dieser Verunreinigung funktionierte er nicht in der beabsichtigten Weise, was wiederum erklärte, warum einige Menschen von seinen Auswirkungen verschont blieben.
Als diese Sonderbewacher, durch den so eindringlich auf Jagang einredendenden Mann abgelenkt, sich umdrehten, um besser sehen zu können, was sich um den Kaiser tat, folgte Kahlan ihrer Bewegung ein kleines Stück mit dem Körper. Ihre Bewegung wirkte vollkommen natürlich, doch Richard wusste, dass dem keineswegs so war. Im Herumwenden zupfte Kahlan ihre Kapuze gegen den Regen zurecht und streifte, als sie ihre Hand wieder sinken ließ, einen ihrer Bewacher. Sofort bemerkte Richard die leere Messerhülle an seinem Gürtel. Als Kahlan ihre Hand wieder unter dem Umhang verschwinden ließ, sah er, wie sich das Licht kurz in der Klinge spiegelte. Am liebsten hätte er lauthals lachend frohlockt, wagte jedoch nicht, auch nur einen Muskel zu rühren. Kahlan ertappte ihn dabei, wie er sie anstarrte, und merkte, dass er ihre heimliche Aktion mitbekommen haben musste. Das Gesicht im Schutz ihrer Kapuze vor ihren Bewachern verborgen, betrachtete sie ihn einen Moment lang, um zu sehen, ob er sie verraten würde. Als er sich nicht rührte, wandte sie sich zusammen mit den Bewachern herum und schaute zu, was sich zwischen dem Boten und dem Kaiser abspielte. Unvermittelt machte Jagang kehrt und stapfte denselben Weg zurück, den er gekommen war, den Boten dicht auf den Fersen. Kahlan schaute kurz über ihre Schulter, um einen letzten Blick auf Richard zu erhaschen, ehe sich die Wachen um den Kaiser und seine Gefangene schlossen. Als sich die Kapuze ihres Umhangs dabei ein winziges Stück verschob, konnte Richard den dunklen Bluterguss auf ihrer linken Wange sehen. Regungslos und stumm ließ er den Sturm der Erbitterung über sich ergehen, ein Zorn, der dem des Schwertes der Wahrheit gleichkam, jenes Schwertes, das er preisgegeben hatte, um Kahlan zu finden. Kahlan, der Kaiser und sämtliche Gardisten verschwanden wieder im schmutzigen Gewimmel des Feldlagers. Es war, als schlösse sich ein Nebelvorhang hinter ihnen.
Vor bitterer Enttäuschung zitterte Richard so sehr, dass nicht einmal der kalte Regen seinen unterdrückten Zorn abzukühlen vermochte. Noch während sein Verstand sämtliche Handlungsmöglichkeiten durchging, dämmerte ihm, dass er nicht das Geringste tun konnte. Zumindest nicht jetzt.
Gleichzeitig verzehrte er sich vor Sehnsucht nach Kahlan, zog ihm die Behandlung, die ihr seitens eines solchen Mannes drohte, die Eingeweide zusammen. Die Knie wurden ihm weich vor Angst um sie. Er musste seine ganze Entschlossenheit aufbieten, um nicht weinend zusammenzubrechen.
Wenn er diesen Jagang nur in die Finger bekäme. Wenn nur ... Kommandant Karg kam und baute sich unmittelbar vor ihm auf. »Glück gehabt«, knurrte er. »Offenbar hatte der Kaiser Wichtigeres zu tun, als meine Mannschaft und ihre tölpelhafte Angriffsspitze zu begutachten.«
»Ich brauche Farbe«, sagte Richard.
Kommandant Karg blinzelte erstaunt. »Was?«
»Farbe. Ich benötige etwas Farbe.«
»Du erwartest, dass ich dir Farbe besorge?«
»Ja. Ich sagte doch, ich brauche sie.«
»Wofür?«
Er wies mit dem Finger fuchtelnd auf Kargs Gesicht und konnte nur mit größter Mühe den Drang unterdrücken, ihm ein Stück Kette um den Hals zu wickeln und ihn zu erwürgen. »Warum tragt Ihr diese Tätowierungen?«
Einen Moment lang zögerte der Kommandant verwirrt und dachte über die Frage nach, als enthalte sie jede Menge Fallstricke.
»Damit ich in den Augen des Feindes grimmiger aussehe«, antwortete er schließlich. »Dieses Aussehen verleiht mir Macht. Erblickt der Feind unsere Männer, sieht er unbarmherzige Kämpfer vor sich. Es erfüllt ihn mit Grauen. Und wenn er dann aus Angst einen Moment zögert, triumphieren wir.«
»Genau aus dem gleichen Grund benötige ich die Farbe«, erklärte Richard. »Ich möchte die Gesichter unserer Mannschaft bemalen, um unsere Gegner mit Grauen zu erfüllen. Es wird uns helfen, sie zu besiegen, und unserer Mannschaft zum Sieg verhelfen.«
Einen Moment lang blickte Kommandant Karg ihm prüfend in die Augen, so als versuchte er abzuschätzen, ob es ihm ernst war oder er etwas im Schilde führte.
»Ich hab eine bessere Idee«, sagte er. »Ich werde Tätowierer kommen und meine ganze Mannschaft tätowieren lassen.« Er tippte mit dem Finger auf die Schuppen seitlich in seinem Gesicht. »Ich werde euch allen Schuppen ins Gesicht tätowieren lassen, damit man sieht, dass ihr zu mir gehört. Jeder wird sofort wissen, dass ihr zu meiner Mannschaft gehört.«
Offenbar hatte der Kommandant Gefallen an seinem Einfall gefunden. Er bedachte Richard mit einem grimmigen Lächeln. »Außerdem werde ich euch stechen lassen. Ihr werdet alle Tätowierungen und Metallstifte im Gesicht haben, damit ihr ausseht wie unmenschliche Tiere.«
Richard wartete, bis er ausgeredet hatte, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, das genügt nicht. Es ist nicht gut genug.«
Kommandant Karg stemmte die Hände in die Hüften. »Was soll das heißen, nicht gut genug?«
»Na ja, diese Art Tätowierungen sind aus größerer Entfernung kaum zu erkennen. Ich bin sicher, dass sie in der Schlacht durchaus ihre Wirkung tun, wenn man dem Gegner Auge in Auge gegenübersteht, aber beim Ja’La verhält es sich anders. Tätowierungen wie diese würden zu leicht übersehen.«
»Auf dem Ja’La-Spielfeld kommt man sich oft genauso nahe wie in einer Schlacht«, widersprach Kommandant Karg.
»Mag sein«, räumte Richard ein, »aber ich möchte, dass wir uns nicht nur von unserem jeweiligen Gegner auf dem Spielfeld abheben, sondern auch von den anderen Mannschaften, die der Partie zuschauen - und zwar für jeden, der uns zusieht. Ich will, dass jeder, der unsere bemalten Gesichter sieht, uns auf der Stelle erkennt. Unser Anblick soll Angst in die Gehirne der anderen Mannschaften einpflanzen, damit sie sich an uns erinnern und ins Grübeln kommen.«
Der Kommandant verschränkte seine muskulösen Arme. »Und ich will, dass ihr euch tätowieren lasst, damit man euch als meine Mannschaft erkennt, als Mannschaft von Kommandant Karg.«