Er wollte den Akt des Malens unmittelbar spüren.
Trotz der wenigen Zeit, die ihm noch blieb, hatte er ausgiebig über die zu malenden Motive nachgedacht. Auf jeden Fall musste es etwas sein, mit dem sich seine ursprüngliche Absicht umsetzen ließe. Damit es in der ihnen geschilderten Weise funktionierte, musste er etwas malen, was er kannte.
Den Tanz mit dem Tod.
Denn der hatte letztendlich das Leben selbst zum Mittelpunkt, wenngleich sich seine Bedeutung nicht allein in dem Gedanken bloßen Überlebens erschöpfte. Der Zweck dieser Formen war die Fähigkeit, dem Bösen die Stirn zu bieten und es zu vernichten, ihren Träger auf diese Weise zu befähigen, das Leben selbst zu erhalten, selbst wenn es das eigene war. Es war eine feine, aber wichtige Unterscheidung: Wer fähig sein wollte, für das Leben zu kämpfen, musste die Existenz des Bösen anerkennen.
Ihm selbst war diese unabdingbare Notwendigkeit vollkommen klar, gleichwohl war es zweifellos ein Gedanke, dem sich zu stellen viele Menschen bewusst ablehnten. Stattdessen zogen sie ein Leben in Blindheit vor, in einer Phantasiewelt. Der Tanz mit dem Tod ließ solche tödlichen Träumereien nicht zu. Wer überleben wollte, brauchte einen ungetrübten und wachen Blick auf die Wirklichkeit, weshalb der Tanz mit dem Tod die Erkenntnis der Wahrheit erforderte. All dies bildete ein Ganzes, dem kein Erfolg beschieden war, sobald man Teile überging oder gar ganz wegließ.
Der Form nach waren die Elemente des Tanzes mit dem Tod Bestandteil einer jeden Auseinandersetzung - ob es sich nun um eine Diskussion, ein Spiel oder einen Kampf bis zum Tod handelte. In der Sprache der Embleme dargestellt, bildeten diese Bestandteile die Ideen, die den Tanz ausmachten. Wer sich dieser Ideen bedienen wollte, musste imstande sein, das wahre Geschehen zu erkennen, um sich ihm stellen zu können. Letztendlich bestand der Zweck des Tanzes mit dem Tod darin, das Leben zu gewinnen. Übersetzt bedeutete Ja’La dh Jin, wie bereits erwähnt, »Das Spiel des Lebens«.
Alle Gegenstände, die einen Kriegszauberer ausmachten, spielten im Tanz mit dem Tod eine gewisse Rolle, in diesem Sinne hatte er sich dem Leben verschrieben. So stellten unter anderem die Symbole auf dem Amulett, das er getragen hatte, ein Abbild, eine verdichtete Darstellung des grundlegenden Gedankens des Tanzes dar - Bewegungen, die ihm aus Kämpfen mit dem Schwert der Wahrheit bekannt waren. Und obwohl er das Schwert nicht mehr besaß, begriff er die Bedeutung des Tanzes mit dem Tod in ihrer Gesamtheit, weshalb ihm das aus dem Kampf mit dem Schwert gewonnene Wissen erhalten geblieben war. Anfangs hatte Zedd ihn stets daran erinnert, dass das Schwert nichts weiter als ein Werkzeug war. Was zählte, war der dahintersteckende Geist.
Später, nachdem Zedd ihm das Schwert ausgehändigt hatte, hatte er ein Verständnis für die Sprache der Symbole entwickelt. Er wusste, was sie bedeuteten, sie sprachen zu ihm. Er erkannte die zu einem Kriegszauberer gehörenden Symbole und verstand ihre Bedeutung. Mit dem Finger begann er diese Linien auf Johnrocks Gesicht aufzutragen, Linien, die sich aus Teilen des Tanzes zusammensetzten, Symbole der Bewegungen im Angesicht des Feindes. Jede Kombination von Elementen besaß seine eigene Bedeutung: Schnitt, Ausfallschritt, Stoß, Drehung, Kreisen, Querschlag, Nachsetzen und das schnelle Herbeiführen des Todes, während man sich bereits auf das nächste Angriffsziel vorbereitete. Die Linien, die er auf Johnrocks Gesicht auftrug, waren Warnungen, alles im Auge zu behalten, was einen attackierte, ohne dass sich das Blickfeld verengte. Richard zeichnete jedoch nicht nur die Elemente des Tanzes nach, sondern auch Teile von Bannen, die er gesehen hatte. Anfangs war er sich dessen gar nicht bewusst. Er hatte Mühe, sich zu erinnern, wo er sie gesehen hatte, doch dann fiel ihm wieder ein, dass sie Teil jener Banne waren, die Darken Rahl in den Zauberersand im Garten des Lebens gezeichnet hatte, um die für das Öffnen der Kästchen der Ordnung erforderliche Magie zu beschwören.
Erst jetzt gewahrte Richard, dass ihm der Besuch jener seltsamen, gespenstischen Gestalt am Abend zuvor noch schwer auf der Seele lag. Die Stimme hatte behauptet, er sei als Spieler genannt worden. Da dies der erste Tag des Winters sei, bleibe ihm noch ein Jahr, das richtige Kästchen der Ordnung zu öffnen.
Trotz seiner Erschöpfung hatte er nach dieser Begegnung an kaum etwas anderes denken können. Er hatte kaum Schlaf gefunden, und abgelenkt von den schmerzhaften Wunden an seinem Bein und auf dem Rücken, war er nicht dazugekommen, sich mit ganzer Kraft der Lösung dieses Rätsels zu widmen. Der erste Tag des Winters hatte die Mannschaftsbesichtigung durch Jagang gebracht. Seine plötzliche Sorge, wie sich vermeiden ließe, dass dieser ihn erkannte, hatte ihn daran gehindert, darüber nachzudenken, wie es möglich war, dass er ein Spieler für die Kästchen der Ordnung sein sollte.
War es vielleicht ein Versehen - eine durch die von den Chimären hinterlassene Verunreinigung ausgelöste Irreführung der Magie? Selbst wenn er das nötige Wissen besäße, was nicht der Fall war, so hatte diese Hexe Sechs ihn von seiner Gabe abgeschnitten, so dass er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie er die Kästchen versehentlich hätte ins Spiel bringen können. Ohne seine Gabe war es praktisch unvorstellbar, dass er das richtige Kästchen geöffnet hätte. Womöglich steckte Sechs hinter alldem, war es Teil eines Komplotts, das er noch nicht verstand.
Das Zeichnen von Bannen, hatte Zedd ihm erklärt, war extrem gefährlich. Eine einzige falsch aufgebrachte Linie, selbst von der richtigen Person unter den korrekten Umständen und im richtigen Medium, konnte eine Katastrophe auslösen. Damals waren ihm diese Zeichnungen wie geheimnisvolle, aus rätselhaften Elementen bestehende Motive vorgekommen, die alle einer komplizierten fremden Sprache anzugehören schienen.
Doch je mehr er über die magischen Zeichnungen und Symbole lernte, desto besser verstand er die Bedeutung hinter ihren einzelnen Elementen. Und so hatte er schließlich herausgefunden, dass Teile der von Darken Rahl zum Öffnen der Kästchen gezeichneten Banne gleichzeitig Teile des Tanzes mit dem Tod waren.
Das ergab durchaus Sinn. Zedd hatte ihm einst erklärt, die Macht der Ordnung sei die Macht des Lebens selbst. Demnach ging es beim Tanz mit dem Tod eigentlich um den Erhalt des Lebens, kreiste die Magie der Ordnung um das Leben und um seine Rettung vor dem Umsich greifen des Feuerkettenbanns.
Er tauchte seinen Finger abermals in die rote Farbe und brachte eine geschwungene Linie auf Johnrocks Stirn auf, die er anschließend mit dem Symbol für die Konzentration von Kraft abstützte. Er verwendete ihm bekannte Elemente, die er jedoch durch eine neue Verknüpfung variierte. Schließlich wollte er nicht, dass eine der Schwes83
tern die Zeichnungen sah und ihre unmittelbare Bedeutung erkannte. Trotz der Verwendung bekannter Elemente waren sie einzigartig. Die anderen Männer ringsum beugten sich ein wenig vor, gebannt nicht nur vom Akt des Malens, sondern auch von der Zeichnung an sich, der eine gewisse Poesie innewohnte. Obwohl sie die Bedeutung der Linien nicht verstanden, erlebten sie sie in ihrer Gesamtheit als Ausdruck eines zielgerichteten Zwecks, als bedeutsam und genau das, was sie waren:
bedrohlich.
»Weißt du, woran mich dieses Ding, diese Zeichnung, erinnert?«, fragte einer.
»Woran denn?«, murmelte Richard, während er das Symbol ausarbeitete, das für den mächtigen Hieb stand, mit dem man die Kraft eines Gegners brach.
»Irgendwie erinnert sie mich daran, wie man das Spiel spielt. Ich weiß nicht warum, aber die Linien sehen ein bisschen aus wie bestimmte Angriffszüge beim Ja’La.«
Überrascht, dass dieser Mann, auch er ein Gefangener, der Zeichnung einen so bedeutsamen Zug abzugewinnen vermochte, musterte Richard ihn fragend.