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»Also habt Ihr auf Gewaltanwendung verzichtet.«

Er breitete die Hände aus, als hätte sie endlich kapiert. »Zu tun, was man am liebsten täte, kann manchmal das Allerschlimmste sein. Manchmal muss man sich zu Beginn zurückhalten, um am Ende sein Ziel zu erreichen.«

Als seine Ausführungen schließlich Wirkung zu zeigen begannen, fielen immer mehr ihrer wirren Erinnerungen - verstörende Teile eines gewaltigen Puzzles, die zuvor nirgendwo gepasst hatten - aus den dunklen Winkeln ihres Verstandes, in denen sie brach gelegen hatten, befreit, endlich an ihren Platz. Es war, als sehe sie alles in neuem Licht. Die plötzliche Erkenntnis war ein Schock.

Nicci klappte der Unterkiefer runter, und ihre Augen weiteten sich.

»Jetzt begreife ich. Ich weiß, was es bedeutet. Bei den Gütigen Seelen, jetzt verstehe ich. Endlich ist mir der Zweck des sterilen Feldes klar geworden.«

13

»Des sterilen Feldes?« Zedds buschige, weiße Brauen zogen sich zusammen. »Wovon redet Ihr?«

Die Fingerspitzen an die Stirn gepresst, versuchte Nicci sich alles zurechtzulegen. Sie konnte kaum glauben, dass sie nicht schon früher darauf gekommen war. Sie blickte auf und sah den Zauberer an.

»Damit die Macht der Ordnung funktionieren kann, ist ein komplexes Zusammenspiel von Ereignissen vonnöten. Wie Ihr gesagt habt, müssen auf Primärgrundlagen fußende Verbindungen hergestellt sein - wie bei jeder Magie. Schließlich ist sie von Zauberern erschaffen worden, und die hätten sich bei allem, was sie tun, auf ihre Kenntnisse von den Dingen stützen müssen, die sie manipulierten.

Im Kern ist die Macht der Ordnung nichts anderes als ein komplex aufgebauter Bann. Wie jeder entworfene Bann wird sie, die entsprechenden Bedingungen vorausgesetzt, durch eine spezielle Abfolge von Ereignissen ausgelöst. Anschließend funktioniert sie dann entsprechend ihrer vorab festgelegten Formeln. Doch so komplex sie auch sein mag, hat sie einmal begonnen, funktioniert sie gemäß grundlegender Prinzipien.«

»Und die Sonne geht immer im Osten auf«, bemerkte Zedd brummig.

»Worauf wollt Ihr hinaus?«

»Alles passt zusammen«, murmelte sie bei sich, den Blick einen Moment lang ins Leere gerichtet.

Unvermittelt richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Zauberer.

»Im Buch des Lebens wird beschrieben, wie man die Macht der Ordnung ins Spiel bringt, dort werden besagte Formeln dargelegt. Im Grunde ist es eine Art Gebrauchsanweisung. Über die Theorie hinter der Macht der Ordnung sagt es nichts aus, dafür ist es nicht gedacht. Will man das Ganze verstehen, muss man woanders suchen.

Da diese Macht, wie alle anderen auch, in falsche Hände geraten und zu Machtzwecken missbraucht werden kann, ist sie einzig für einen ganz besonderen Zweck geschaffen worden: als Gegenmittel gegen den Feuerkettenbann. Zentrale Bestandteile der Ordnung sind ein entworfener Bann, der, einmal ausgelöst, zuvor festgelegten Abläufen folgt. Diese Abläufe wiederum erfordern gewisse Vorausset zungen - zum Beispiel den richtigen Gebrauch des Schlüssels, nämlich Des Buches der gezählten Schatten.«

Ihre Gedanken gingen noch immer rasend schnell all die neuen Konstellationen durch, während sie gleichzeitig Dinge aus unterschiedlichsten Quellen zusammenfügte, die sie noch nie miteinander in Verbindung gebracht hatte.

»Ja, schon gut.« Zedd machte eine ungeduldige Handbewegung. »Die Kästchen der Ordnung wurden eigens als Gegenmittel gegen den Feuerkettenbann geschaffen. Das wissen wir bereits. Außerdem versteht es sich von selbst, dass gewisse Bedingungen erfüllt sein müssen, und dass die Macht anschließend auf eine vorher festgelegte Weise funktionieren wird. Das ist doch alles so offensichtlich, wie es nur sein kann.«

Nicci warf die Bettdecke zur Seite und erhob sich schwungvoll. Im Bett fühlte sie sich fehl am Platz. Dann blickte sie an sich herab und musste zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sie ein rosafarbenes Nachthemd trug. Sie konnte Rosa nicht ausstehen! Wieso steckten diese Leute sie ständig in rosafarbene Nachtgewänder? Nun, vermutlich war gerade nichts anderes zur Hand gewesen.

Fast ohne darüber nachzudenken, löste sie einen rasiermesserfeinen Strom subtraktiver Magie aus und schickte ihn nach unten durch den Stoff des Nachtgewandes, wo er sich nur der Faser selbst annahm und diese von den Bestandteilen des Färbemittels reinigte, so dass die Farbe des Nachthemds, beginnend am Halsansatz, in einer sich durch das gesamte Kleidungsstück ziehenden Welle verblasste, bis nur noch die schlichte, schmutzig weiße Farbe des Stoffes selbst zu sehen war. Zedd starrte ungläubig. »Habt Ihr etwa eben subtraktive Magie benutzt, die Macht der Unterwelt und des Todes höchstselbst, nur um diesem albernen Fetzen seine Farbe zu nehmen?«

»Ja, sieht schon viel besser aus, findet Ihr nicht?« Sie hatte der Frage kaum Beachtung geschenkt, denn sie war in Gedanken bereits ganz woanders.

Protestierend hob Zedd seine Hand. »Also, ich halte es für keine gute Idee ...«

»Was ist nun der allem zugrunde liegende Zweck?«, würgte Nicci seinen Einwand ab, den sie ohnehin kaum mitbekommen hatte, und der sie noch viel weniger kümmerte.

Zedds Hand hielt inne. Seine Miene war kurz davor, in Verzweiflung umzuschlagen. »Eben das. Dem Feuerkettenbann entgegenzuwirken.«

»Nein, nein. Was ich meinte, war, worin genau besteht die Funktion dieses Gegenmittels gegen den Bann?«

Seine Ungeduld gegenüber Dingen, die nur allzu offensichtlich schienen, drohte in Gereiztheit umzuschlagen. »Uns allen das Objekt des Banns in Erinnerung zu rufen.« Ein erregtes Funkeln trat in seine Augen. »In diesem Fall also Kahlan.«

»Ja, in gewissem Sinn. Nur wäre das eine unzulässige Vereinfachung des Prozesses, eine Beschreibung des letztendlichen Ziels.« Mittlerweile selbst Lehrerin und nicht mehr Schülerin, hob sie einen Finger. »Um den von Euch soeben beschriebenen Vorgang zu bewirken, muss er wiederherstellen, was in uns zerstört worden ist -unsere Erinnerung. Es geht nicht darum, dass die Macht der Ordnung unsere Erinnerung an Vergessenes zurückholt, sondern dass sie etwas nicht mehr Vorhandenes neu erschafft.

In unserem Verstand existiert nichts mehr, an das wir uns erinnern könnten, denn diese Erinnerungen sind nicht einfach nur der Vergessenheit anheimgefallen, sie sind nicht mehr existent, vernichtet durch die Feuerkettenreaktion. Dieser Teil unseres Erinnerungsvermögens ist zerstört.

Es neu zu erschaffen, ist etwas völlig anderes, als unserer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Der Unterschied entspricht etwa dem zwischen einem Schlafenden und einem Toten. Sosehr sie sich bei oberflächlicher Betrachtung gleichen mögen, ist ihnen doch kaum mehr gemein als die geschlossenen Augen.

Das letztendliche Ziel mag in beiden Fällen das gleiche sein, aber das Problem und das Mittel zu seiner Lösung haben nichts miteinander gemein. Um der Feuerkettenreaktion entgegenzuwirken und uns wieder in den ursprünglichen Zustand zu versetzen, muss die Macht der Ordnung ein Wissen, ein Bewusstsein vergangener Geschehnisse wiederentstehen lassen und dadurch neue Erinnerungen schaffen, die an die Stelle der vernichteten treten. Sie muss unsere Erinnerung gewissermaßen wieder zum Leben erwecken.«

Während er über ihre Worte nachdachte, trat anstelle seiner ur sprünglichen Ungeduld eine Angespanntheit auf Zedds Stirn. Er folgte ihr beim Aufundabgehen mit dem Blick. »Nun ja, irgendwie muss es zu einer Wiederherstellung tatsächlicher Ereignisse aus der Vergangenheit kommen.« Er kratzte sich an der Schläfe und warf ihr einen schiefen Blick zu. »Wollt Ihr etwa sagen, Ihr glaubt jetzt zu wissen, wie so etwas funktionieren könnte?«

Niccis nackte Füße tappten über die Teppiche. »Soweit ich es mir aus dem Gelesenen zusammenreimen konnte, waren die Erschaffer der Kästchen der Ordnung selbst nicht davon überzeugt, dass so etwas möglich wäre.«