»Danke«, sagte Nicci und fügte nach kurzem Nachdenken hinzu: »Es ist sehr hübsch, nur war es für mich halt die falsche Farbe, weiter nichts. Was meint Ihr? Sobald ich mich angezogen habe, gebe ich ihm seine alte Farbe zurück, dann könnt Ihr es haben.«
Argwohn schlich sich in Rikkas Miene. »Ich? Ich weiß nicht, ob -«
»Es würde Euch wunderbar stehen, ehrlich. Das Rosa würde ausgezeichnet zu Eurem Teint passen.«
Rikka wirkte ein wenig verwirrt und unsicher. »Wirklich?«
Nicci nickte. »Es wäre wie für Euch gemacht. Ich möchte wirklich, dass Ihr es nehmt.«
Rikka zögerte einen Moment, schließlich meinte sie: »Also gut, ich denke darüber nach.«
»Ich werde es waschen und dafür sorgen, dass der Rosaton genau Euren Geschmack trifft.«
Ein Lächeln huschte über Rikkas Gesicht. »Danke.«
Nicci wünschte, Richard könnte hier sein und dieses verhaltene Lächeln sehen, das so riskant für eine Mord-Sith war. Er hätte verstanden, dass dieser scheinbar so belanglose Schritt für diese Frau eine gewaltige Veränderung bedeutete. Sie vermisste ihn, hätte alles dafür gegeben, sein Lächeln zu sehen, dieses Lächeln, in dem sich alles widerzuspiegeln schien, was gut und anständig war. Sie vermisste ihn so sehr, dass sie hätte in Tränen ausbrechen mögen.
Rikka warf ihr einen Seitenblick zu. »Ist alles in Ordnung mit Euch? Diese Hexe hat Euch doch keinen bleibenden Schaden zugefügt? Ihr wirkt ein wenig, wie soll ich sagen ... geknickt.«
Nicci tat ihre Besorgnis mit einer unwirschen Handbewegung ab und wechselte das Thema. »Habt Ihr eigentlich Rachel inzwischen gefunden?«
Sie verließen gerade eine steinerne Kammer, deren Wände mit Teppichen von Landschaftsbildern behängt waren, und gelangten auf einen breiten, holzvertäfelten Flur, als die Mord-Sith Nicci mit einem eigentümlichen Blick bedachte. »Nein. Heute Morgen in der Frühe kam Chase zurück und berichtete, er hätte draußen vor der Burg Fußspuren gesehen. Gleich darauf hat er sich auf die Suche nach ihr gemacht.«
Rachel war für Rikka eine weitere Verbindung zu den einfachen Freuden des Lebens. Nicci wusste, dass sie die Kleine sehr mochte, auch wenn sie es niemals auch nur annäherungsweise zugegeben hätte.
»Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist«, sagte Zedd über seine Schulter, als er sie um eine Ecke in einen schmaleren Flur führte. »Einfach wegzulaufen sieht ihr gar nicht ähnlich.«
»Glaubt Ihr, es könnte vielleicht etwas mit dem Auftauchen von Sechs zu tun haben?«, schlug Nicci vor. »Vielleicht steckt sie ja dahinter.«
Rikka schüttelte den Kopf. »Chase meinte, er hätte außer Rachels Spuren keine anderen gesehen, und ganz bestimmt keine von Sechs.«
»Denkt Ihr das Gleiche wie ich?«, wandte sich Cara an Nicci. »Ihr meint den Unterricht, den Richard uns damals im Spurenlesen gegeben hat?«
Cara nickte. »Er meinte, es wäre möglich, Spuren mithilfe von Magie zu verbergen.«
»Das ist wohl richtig«, warf Zedd ein. »Nur ist Rachel schon vor Sechs’
Auftauchen verschwunden. Hätte sie versucht, ihre Spuren mithilfe von Magie zu verbergen, warum dann nur ihre eigenen und nicht auch Rachels? Was hätte das für einen Sinn?«
Unvermittelt blieb Nicci stehen und wandte sich noch einmal herum zu der Türöffnung, durch die sie gerade getreten waren. Zu beiden Seiten des schmalen Portals standen vergoldete Pfeiler, die einen mächtigen Querbalken mit geschnitzten Symbolen stützten.
Sie betrachtete sie stirnrunzelnd. »War hier vorher nicht ein Schild?«
Zedds verdrießlicher Gesichtsausdruck verriet ihr, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Er setzte sich wieder in Bewegung, und die an deren mussten sich beeilen, um aufzuschließen. Am Ende des Flurs bog er rechts in einen Durchgang ein, der zu einer Wendeltreppe führte. Verglichen mit den breiten Prunktreppen in der Burg der Zauberer war die Wendeltreppe eher schmal, im Vergleich mit einer gewöhnlichen Wendeltreppe war sie jedoch bemerkenswert. Die Tritte waren so breit, dass in der Mitte, wo ihre Anordnung bequem war und in einem vernünftigen Verhältnis zur Steigung stand, zwei Personen nebeneinander gehen konnten. Wegen der großzügigen Anlage des Treppenhauses musste man allerdings am äußeren Rand der Tritte mehrere Schritte bis zur nächsten Kante zurücklegen. Zudem folgten die Stufen einer eigentümlichen Krümmung, einer Art abfallenden korkenzieherähnlichen Ellipse, was eine gewisse Irritation bewirkte und einiges an Aufmerksamkeit erforderte, wollte man angesichts dieser ungewöhnlichen Anordnung nicht stürzen. Während des Abstiegs erkannte Nicci schließlich, dass man die Stufen so angelegt hatte, um eine mit glitzernden Mineralien durchsetzte Felsformation zu umgehen und anschließend zu unterführen.
Am Fuß der Treppe mündete ein kurzer Durchgang in den bereits vertrauten Spalt im Berg, der die Räume des Eindämmungsfeldes vom Muttergestein des eigentlichen Berges trennte. Jetzt waren sie der Stelle sehr nahe, wo die Hexe sie überrascht hatte.
»Hier«, verkündete Zedd und blieb stehen. »Hier ist es zuerst aufgetreten.«
Er wies an den perfekt eingepassten Steinquadern der Mauer gegenüber der groben, aus dem Granit des Berges geschlagenen natürlichen Wand empor.
Als Nicci an der Mauer entlangblickte, bemerkte sie einige dunkle Flecken, die nicht natürlichen Ursprungs zu sein schienen. Sie ließ den Blick mehrere Dutzend Fuß an der Mauer emporschweifen und entdeckte da und dort die gleichen dunklen Verfärbungen. Es sah so aus, als sickere irgendeine Substanz aus dem Gestein.
»Was mag das sein?«
Zedd wischte mit dem Finger über eine der dunklen Stellen und hielt ihn ihr vors Gesicht. »Blut.«
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Nicci die zähflüs sige, feuchtrote Substanz an seinem Finger. Sie sah dem Zauberer wieder in die Augen. »Blut?«
Er nickte ernst. »Blut.«
»Echtes Blut?«
»Echtes Blut«, bestätigte er.
»Vielleicht von irgendwelchen Tieren?« Nicci musste an die Unmengen von Fledermäusen denken, die, von der Hexe aufgescheucht, durch ebendiese Flure geflüchtet waren. »Vielleicht von den Fledermäusen?«
»Menschenblut«, widersprach der Zauberer. Einen Augenblick lang verschlug es ihr die Sprache. Sie sah Cara an.
»Doch, wir sind absolut sicher«, beantwortete die Mord-Sith ihre unausgesprochene Frage.
»Ich geb’s auf«, meinte sie schließlich. »Wie kann es sein, dass Menschenblut aus dem Gestein dieser Mauer sickert?«
»Nicht nur aus dieser Mauer und in diesem Gang«, verbesserte Zedd. »Es sickert an verschiedenen, über die ganze Burg verteilten Stellen aus dem Gestein. Das Auftreten scheint keinem bestimmten Muster zu folgen.«
Abermals besah sich Nicci einige der dicken Tropfen, die an der Wand herunterliefen. Sie mochte sie nicht berühren.
»Nun«, meinte sie schließlich, »das bedeutet ganz sicher Ärger, nur weiß ich nicht, welcher Art.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Zedd. »Habt Ihr eine Ahnung, was es bedeuten könnte?«
»Es bedeutet, die Burg selbst blutet - in gewisser Weise. Es bedeutet, dass sie im Sterben liegt.«
Ob seiner Bemerkung konnte Nicci ihn nur fassungslos anstarren. »Sie liegt im Sterben?«
Zedd machte ein grimmiges Gesicht und nickte. »Dieser Schild dort hinten, nach dem Ihr Euch erkundigt habt - er befindet sich seit Jahrtausenden in diesem Gang. Jetzt ist er außer Kraft. Überall in der gesamten Burg versagen Schilde. Das gesamte Gefüge der Burg ist ernstlich in Gefahr.
So talentiert Sechs auch sein mag, es hätte ihr niemals möglich sein dürfen, bis hierher vorzudringen, ohne dass die Alarmanlagen aus gelöst wurden. Aber das ist nicht geschehen. Sie haben ebenfalls versagt. Deshalb wussten wir auch nicht, dass sie sich in der Burg befand. Nur dadurch konnte es ihr gelingen, sich an uns heranzuschleichen. Wäre die Burg intakt, hätten die Schilde - selbst bei einem Versagen der Alarmanlagen, oder wenn sie aus irgendeinem Grund überwunden worden wären - nicht nur verhindert, dass sie sich frei bewegen, sondern auch, dass sie überhaupt so weit ins Innere der Burg vordringen konnte. Dies hier ist ein gesicherter Bereich. Sie hätte einfach nicht bis hier unten vordringen dürfen, und doch hat sie einen Weg gefunden, die noch funktionierenden Schilde zu umgehen, so dass sie sich nach Belieben bewegen konnte.